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Der Tod des vergreisenden Volkes

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Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat die medizinische Wissenschaft in der Bekämpfung der Infektionskrankheiten und Leiden der Atmungsorgane bedeutende Erfolge erzielt. Die Tatsache, daß heute mehr Menschen in die höheren Altersstufen aufrücken, hat zu einer Erhöhung des auf die „Alterskrankheiten“ entfallenden Tributs geführt und eine Verlagerung des Schwerpunktes der medizinischen Forschungsarbeit von den Infektions- zu den „Abnützungskrankheiten“ bewirkt, unter denen der Krebs1 eine besondere Stellung einnimmt.

Für die Zeit vor 1921 liegen vergleichbare Daten infolge der Aenderung im Gebietsumfang unseres Staatsgebietes nicht vor. Außerdem muß bedacht werden, daß die damalige Todesursachenstatistik sehr viele Wünsche offenließ, insbesondere aber die Erfassung der Krebssterbefälle unvollständig war, wie auch die verhältnismäßig hohen Zahlen der den Verlegenheitsdiagnosen „Altersschwäche“ und „Todesursache unbekannt“ Zugeordneten beweisen. Das Material über die Krebssterblichkeit nach Geschlecht, Alter und Lokalisation ist sehr spärlich, eine Angliederung der an Krebs Gestorbenen nach Geschlecht und Alter erfolgte nur für die Jahre 1927 bis 1929, 1933/34 und von 1938 an. Detaillierte Angaben über die -Lokalisation liegen seit 1938 auf.

Die Zahl der an Krebs Gestorbenen belief sich 1921 bis 1925 auf rund 8600 gegenüber 15.000 im Jahre 1953; dies entspricht einer Zunahme von 74 Prozent! In der gleichen Zeitspanne ist der Anteil der Krebssterblichkeit an der Gesamtsterblichkeit von 8 auf 18 Prozent gestiegen. Allerdings ist dabei zu bedenken, daß es sich hier um eine Gliederungszahl handelt, deren Höhepunkt nicht zuletzt von den Veränderungen in der Sterblichkeit an anderen Todesursachen abhängig ist Um diesen Einfluß auszuschalten, ist es erforderlich, auf die Bevölkerung bezogene Sterbeziffern zu errechnen, wie es in der folgenden Tabelle geschehen ist:

Krebssterbefälle auf 100.000

der

Grundzahlen Bevölkerung

1921 bis 1925 8.600 131

1926 bis 1930 10 700 154

1931 bis 1935 11 500 170

1936 bis 1940 12 100 180

1946 bis 1950 13.400 193

1951 14.900 . 215

1952 14.800 213

1953 15.000 215

Die stetige Verbesserung und die erweiterte Verbreitung der diagnostischen Methoden muß bei Beurteilung dieser Zahlen in Rechnung gestellt werden. In den letzten 30 Jahren hat sich die auf 100.000 der Bevölkerung berechnete Krebsziffer um 64 Prozent erhöht.

Die Krebssterblichkeit konzentrierte sich bekanntlich auf das höhere Alter — zwei Drittel der an Krebs Gestorbenen waren über 60 Jahre alt.

Die „rohe“, auf die Gesamtbevölkerung bezogene Sterbeziffer kann insofern nicht als das geeignete Maß zur Feststellung der relativen Krebssterbehäufigkeit angesehen werden, als die entscheidende Frage, ob es sich um eine durch die geänderte Altersstruktur bewirkte Zunahme oder um eine reelle Frhöhung handelt, durch

* Im folgenden werden unter dem Ausdruck „Krebssterblichkeit“ die Sterbefälle an bösartigen Neubildungen zusammengefaßt. (Nr. 45 bis 5 5 des von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Todesursachenverzeichnisses von 193 8. bzw. Nr. 44 bis 57 des mittleren Verzeichnisses von 1948.)sie nicht beantwortet wird. Die Untersuchung muß daher auf die Geschlechts- und Altersgliederung der Gestorbenen ausgedehnt werden. Ein richtiges Bild von der Krebssterblichkeit in den einzelnen Altersgruppen gibt die Beziehung der Zahl der Gestorbenen auf die Lebenden gleichen Alters.

Krebssterbefälle des männlichen Geschlechtes

auf ioo.000 Lebende Altersgruppen Grundzahlen* gleichen Alters

1933/34 1952/53 1933/34 1952/53

35 bis 39 80 40 36 27

40 bis 44 120 120 58 49

45 bis 49 240 320 125 131

50 bis 54 440 650 237 273

55 bis 59 680 830 403 442

60 bis 64 850 1060 624 *705

65 bis 69 960 1310 925 1049

70 u. mehr 1760 2920 1301 1548

Alle Alter 5260 7350 162 227

Krebssterbefälle des weiblichen Geschlechtes

auf 100.000 Lebende Altersgruppen Grundzahlen* gleichen Alters

1933/34 1952/53 1933/34 1952/53

35 bis 39 140 130 60 64

40 bis 44 280 290 111 101

45 bis 49 440 470 184 163

50 bis 54 600 640 280 233

55 bis 59 750 750 381 308

60 bis 64 680 870 500 425

65 bis 69 880 1100 724 629

70 U. mehr 1830 3130 1058 1142

Alle Alter 5910 7530 168 202

* Die Grundzahlen für 1933/34 wurden auf Grund der in den Statistischen Nachrichten, XIV. Jg., Nr. 6, ausgewiesenen Sterbeziffern errechnet.

Die Altersgruppen von 0 bis unter 3 5 Jahren wurden in die Tabelle nicht aufgenommen, da die Zahl der Krebssterbefälle in diesen Gruppen so gering ist, daß sie für die Darstellung der Entwicklung der Krebssterblichkeit ohne Bedeutung sind. Bei Würdigung obenstehender Zahlen ist zu bedenken, daß die zugrunde gelegten Beobachtungszeiträume verhältnismäßig kurz sind und daher zu weit gehende Schlüsse nicht gezogen werden dürfen.

Bei den Männern ist in den Gruppen von 35 bis 44 Jahren ein Rückgang der Sterbehäufigkeit an Krebs seit 193 3/34 festzustellen, ab 45 jedoch ein Anstieg, der in der Gruppe 70 Jahre und darüber fast 20 Prozent beträgt. Bei den Frauen ist in nahezu allen Altersgruppen eine Verminderung der relativen Krebssterbehäufigkeit gegenüber 1933/34 zu beobachten, eine Ausnahme bilden nur die 3 5- bis 39jährigen und die Frauen im Alter von 70 Jahren und darüber. Während 193 3/34 die Krebssterblichkeit bei den Frauen größer als bei den Männern war, lag 1952/53 die Sterbeziffer der Männer, über jener der Frauen.

Die Bedeutung der Krebssterblichkeit in einzelnen europäischen Ländern, für die Angaben verfügbar waren, erhellt aus folgender Ueber-sicht5:

An Krebs gestorbene Staaten Jahr Männer Frauen

auf 100.000 Lebende

Oesterreich 1953 230 203

Großbritannien 1951 200 174 Schweiz 1951 ' 196 170

Westdeutschland 1952 179 175 Frankreich 1952 174 168

Dänemark 1951 155 175

Irland 1951 152 134

Finnland 1951 147 128

Niederlande 1952 142 138

Schweden 1951 142 148

Norwegen 1952 141 145

Italien 1951 110 104

Nur in drei der hier angeführten Staaten -Dänemark, Schweden und Norwegen — war die Krebssterbeziffer des männlichen Geschlechtes kleiner als jene des weiblichen. Bei beiden Geschlechtern — unter den hier angeführten Staaten — hat Oesterreich die höchsten Sterbeziffern aufzuweisen. Allerdings ist die höhere Krebssterblichkeit in Oesterreich teilweise durch die Ueberalterung unseres Volkskörpers bedingt.

Zusammenfassend läßt sich sagen:

1. In Oesterreich weist ab dem 45. Lebensjahr die Krebssterblichkeit der Männer eine steigende, jene der Frauen eine sinkende Tendenz auf.

2. Bis zum Alt von 44 Jahren hat sich die Krebssterblichkeit bei beiden Geschlechtern im allgemeinen vermindert.

3. Durch Ausschaltung der unterschiedlichen Altersstruktur der Bevölkerung ergibt sich, daß die „echte“ Krebssterblichkeit bei den Männern 1952/53 größer war als 1933/34 und 1939/40, bei den Frauen jedoch geringer als in diesen beiden Vergleichsperioden. Bei letzteren dürfte sich also die Gefahr, an Krebs zu sterben, eher

* Quelle- Annual Epidemiological and Vital Statisches 1950 bzw. 1951.vermindert haben, jedoch ist die einzelne Frau infolge der Verlängerung der menschlichen Lebensdauer mehr „krebsgefährdet“ als früher.

4. Die größere Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes dürfte vorwiegend auf das ins Gewicht fallende Ansteigen der Zahl der Sterbefälle an Krebs der Atmungsorgane zurückzuführen sein, durch welches der Rückgang der Sterblichkeit an Magenkrebs ausgeglichen wurde. Bei den Frauen dürfte sich die verminderte Krebssterblichkeit vorwiegend aus der geringeren Sterblichkeit an Magenkrebs erklären.

5. Die im Vergleich zu den Männern größere Sterblichkeit der Frauen bis zum 50. Lebensjahr ist vor allem auf die verhältnismäßig hohe Sterblichkeit an Krebs der Geschlechtsorgane zurückzuführen.

6. Eine territoriale Aufgliederung der Krebssterbefälle zeigt, daß bei den Männern die Sterblichkeit an Krebs der Atmungsorgane in Wien in allen Altersgruppen bedeutend größer ist als in den Bundesländern; dies dürfte auch die Erklärung für die von Hofrat Dr. Schubert3 erwähnte höhere Krebssterblichkeit der Männer ab dem 50. Lebensjahr in Wien gegenüber „Oesterreich ohne Wien“ sein. Bei den Frauen ist zu bemerken, daß die Sterblichkeit an Gebärmutterkrebs in der Steiermark in allen Altersgruppen über dem Oesterreichdurchschnitt liegt.

7. Die Krebssterblichkeit in Oesterreich ist größer als in den meisten europäischen Ländern.

* Wiener medizinische Wochenschrift, Separatabdruck aus 103. Jahrgang, 1953, Nr. 43.

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