Jürg Amann: Europas Alternative zu Paulo Coelho?

19451960198020002020

"Schöne Aussicht", der neue Band mit Erzählungen des Schweizer Autors, würde eine ebenso große Mundpropaganda verdienen wie "Der Alchimist".

19451960198020002020

"Schöne Aussicht", der neue Band mit Erzählungen des Schweizer Autors, würde eine ebenso große Mundpropaganda verdienen wie "Der Alchimist".

Werbung
Werbung
Werbung

Das Leben ist wie eine Wanderung, aber ist das Ziel tatsächlich der Tod? Jürg Amann bedient sich in seinen neuen Prosastücken der Metapher des Weges. Das Ende der Wanderung steht zwar fest (siehe oben), doch es kommt immer auf die Sicht der Dinge an. Programmatisch die Anfangsgeschichte des Bändchens "Schöne Aussicht". "Wir hatten den Gipfel immer im Auge. Von Anfang an. Auch dann, wenn wir ihn gar nicht sahen. Wir freuten uns auf die Aussicht. Sie war der Grund und der Motor unseres Gehens. Für sie nahmen wir alle Mühen des Aufstiegs in Kauf. Wir das sind wir. Wir alle zusammen, die wir dabeiwaren."

Was folgt, ist Wanderern bekannt: schlechtes Wetter, rutschiger Boden, die Frage der Umkehr reift. Auch die Zwischenetappe scheint verlockend, wer die Hütte empfohlen hatte, wußte keiner mehr. Die Illusionen des Lebens, nicht selten folgen wir Vermutungen. Und das Ziel: "Aber als wir den Gipfel endlich erreichten, war es ein Abgrund." Eine trittsichere Geschichte, die Leserin und Leser unvermutet und mit Leichtigkeit in schwindelnde philosophische Höhen entführt - und mit ihrer Schlußpointe, plötzlich eine andere, neue Sicht der Dinge eröffnet. Eine schöne Aussicht. Bereits dieser Titel kann mit Begeisterung ebenso wie mit Verzweiflung aufgenommen werden: Schöne Aussicht ...

Nicht alle Geschichten in dieser Sammlung sind so geschlossen wie der Einstieg. Doch der Geist des Beginns findet sich auch in den folgenden, manchmal nur als Lufthauch, manchmal als kräftiger Wind wie zum Beispiel in der Geschichte "Der Tod stirbt", wenn ein Stakkato von Fragen keine einfachen Lösungen zuläßt: "Der Tod ist der Zweck des Lebens, vielleicht? Oder: Der Tod ist der Freund des Lebens, noch eher? Denn nichts anderes als die Angst vor dem Tod ist die Liebe zum Leben? Oder: Der Tod ist der Jäger auch Hegejagd?" In dieser Kategorie ist auch das Stück "Kleiner Schmerz" zu werten: "Man kommt auf die Welt und ist enttäuscht. Dann kommt man nach Rom und ist enttäuscht. Paris, Brüssel, London. Man ist wieder enttäuscht. Berlin ist nicht die Stadt, wo man leben will. In der Puszta stiehlt man die Pferde nicht. Überall sind die Berge weniger hoch, als man gedacht hat, die Ebenen weniger weit. Die Wasser weniger tief. Und in Holland sind einem die Flügel der Windmühlen zu klein."

Der kleinen Form verpflichtet, ist es sicher kein Zufall, daß der Schweizer Amann sich intensiv auch mit Robert Walser auseinandergesetzt hat. Die kurzen Prosastücke sind ein Beweis dafür, wie es einem Erzähler gelingen kann, Beobachtungen so festzuhalten, daß man über die Wirklichkeit stolpert. Der Erzähler als Allmächtiger, bei dem es beim Hinsehen Herbst wird.

Amann findet neben der Wanderschaft für das Leben noch andere Bilder: das Abfahren und Verabschieden, manchmal Ankommen, dazwischen, das ist das Leben, manchmal auch nur mit geborgten Gefühlen, wie das alte Ehepaar in "Holz", im Abschnitt der Mikrodramen. Meint eine alte Frau im Wald erstaunt: "So viel Holz. Das könnten wir, wie sehr wir auch unseren Ofen füttern würden und die Nächte durchheizen und die verbleibenden Winter erwärmen - und würde auch Stürme ums Haus toben, die uns noch unbekannt sind -, gar nicht mehr alles verbrennen." Der Mann daraufhin zu seiner Frau: "Es gehört uns ja ohnehin nicht."

Die Sinnfrage wird auch in den Buchhandlungen wieder häufiger gestellt und in Geschichten gekleidete Antworten wie die des Brasilianers Paulo Coelho finden ein dankbares Publikum. Der Erfolg des ersten Romans von Coelho, "Der Alchimist", zeigte, daß die Mundpropaganda, oft besser als ausgeklügelte PR-Aktionen, sozusagen durch die Hintertür, einem Buch den großen Erfolg bescheren kann. Die Mundpropaganda für "Schöne Aussicht" sollte beginnen, ein Teil des Lesepublikums von Coelho zumindest auch zu Amann greifen - einer Alternative, einer guten europäischen Ergänzung.

Schöne Aussicht. Prosastücke von Jürg Amann Haymon Verlag, Innsbruck 1997, 117 Seiten, geb., öS 198,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung