Huysmans - © Foto: imago / Photo12

„Die Schwestern Vatard“ von Joris-Karl Huysmans: Die tiefen Schichten von Paris

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Der Roman „Die Schwestern Vatard“ von Joris-Karl Huysmans erschien 1879. Der Schriftsteller erzählt darin die Geschichte zweier Schwestern im Arbeitermilieu von Paris. Allen Widerständen zum Trotz kämpfen sie um Selbstbestimmtheit und Lebensglück.

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Der Roman „Die Schwestern Vatard“ von Joris-Karl Huysmans erschien 1879. Der Schriftsteller erzählt darin die Geschichte zweier Schwestern im Arbeitermilieu von Paris. Allen Widerständen zum Trotz kämpfen sie um Selbstbestimmtheit und Lebensglück.

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In den späten 1870er Jahren, noch während der Arbeit am Roman „Die Schwestern Vatard“, schrieb Joris-Karl Huysmans: „Wenn ich für dieses Buch nicht ins Gefängnis komme, gibt es keinen Gott!“ Die Einschätzung fußte wohl auf der eben gemachten Erfahrung mit seinem Debütroman „Marthe. Geschichte einer Dirne“. Der Autor hatte das Buch auf eigene Kosten in Brüssel veröffentlicht, in Frankreich war es wegen „Verletzung der öffentlichen Moral“ zunächst beschlagnahmt worden. 20 Jahre zuvor hatten Baudelaires „Blumen des Bösen“ und Flauberts „Madame Bovary“ die Gerichte beschäftigt; die Grande Nation pochte auf Sittenstrenge.

Huysmans‘ Folgeroman, „Die Schwestern Vatard“ (1879), spielt im Arbeitermilieu und lässt die Welt der Dirnen und Ehebrecher ebenso aufblitzen wie jene der nicht „Salon“-fähigen Kunst; auf dem Index landete das Buch indes nicht. Nun liegt der Roman in der sorgfältigen, stimmigen Neuübersetzung von Gernot Krämer auf Deutsch vor. Der Band schließt mit einem Selbstporträt von Huysmans ‒ als fingiertes Interview mit sich selbst, in dem er den Part eines Kritikers übernimmt.

Eng mit Émile Zola und seinem Kreis

Joris-Karl Huysmans (1848-1907) wurde als Sohn eines holländischen Künstlers und einer französischen Lehrerin in Paris geboren. Der Vater starb früh, die Mutter heiratete ein zweites Mal. Nach abgebrochenem Jusstudium arbeitete Huysmans über 30 Jahre im Innenministerium. Seine literarischen Anfänge standen im Zeichen des Naturalismus. Die Phase in der Médan-Gruppe um Émile Zola währte nicht lange. Schon bald wandte Huysmans die pseudowissenschaftliche Dokumentation des Naturalismus auf die Sphären des Artifiziellen an, etwa auf die künstlichen Paradiese von „Gegen den Strich“. Doch auch der überreizte Ästhetizismus dieses Kultbuchs der Décadence oder der Okkultismus des Romans „Tief unten“ blieben Etappe. Huysmans Weg führte schlussendlich zum Katholizismus – und zeitweise ins Kloster. Er wurde Laienbruder bei den Benediktinern.

Für den Roman „Die Schwestern Vatard“ (gewidmet seinem Mentor Zola) konnte Huysmans aus vertrautem Milieu schöpfen. Wie dem Nachwort des Übersetzers zu entnehmen, wuchs der Autor über der Buchbinderei des Stiefvaters auf. Nach dem Tod der Mutter erbte er den Betrieb, verkaufte seine Anteile aber später. Der Lärm der Maschinen hatte ihn ebenso begleitet wie die Gesänge der Belegschaft während der Nachtschicht. Mit einer solchen Szene eröffnet auch der Roman: Es geht hoch her, in der Pariser Buchbinderei Débonnaire & Cie. Die Arbeiterinnen und Arbeiter halten sich mit Scherzen und Liedern vom Vaterland oder der Liebe wach. Am frühen Morgen klingelt endlich der Lohnbeutel, auch für die Schwestern Vatard: Désirée, die emsige 15-jährige Spitzbübin, und die ältere Céline, fidel und ausschweifend. Beide wohnen bei den Eltern. Der Vater huldigt einem genügsamen Müßiggang, die Mutter dämmert als Pflegefall dahin. Désirée kümmert sich um den Haushalt, Céline um ihre Amouren. Das wahre Liebesglück bleibt für beide Chimäre, die Pragmatik trägt einen schalen Sieg davon.

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