Treue und Verrat im versunkenen Novi Sad

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Aleksandar Tismas neuer Roman liefert den Background für das Scheitern Jugoslawiens.

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Aleksandar Tismas neuer Roman liefert den Background für das Scheitern Jugoslawiens.

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Es ist erst wenige Wochen her, daß täglich über das Bombardement jugoslawischer Städte berichtet wurde. Ein Ziel war Novi Sad. Damals begann ich den neuen Roman von Aleksandar Tisma zu lesen. Er beschert ein Aha-Erlebnis besonderer Art. "Treue und Verrat" spielt nicht nur in Novi Sad. Fast scheint es auch so, als hätte der Autor die Zerstörungen des letzten Krieges, die Beschädigungen durch die NATO-Bomben im Seelenleben seiner Hauptpersonen vorweggenommen. Denn der ehemalige Widerstandskämpfer Sergej Rudi'c ist ebenso wie seine Mutter mit den Scherben seines Gefühlslebens beschäftigt. Nicht nur sie stehen vor einem Trümmerhaufen, der nicht auf den ersten Blick als solcher erkannt wird, doch Tisma blickt unter die Oberfläche und löst den Kitt, der die Menschen zusammenhält und funktionieren läßt. Sergej lebt von seiner Familie getrennt, er "sieht sich wie einen Obdachlosen, der sehnsüchtig auf ein helles Fenster blickt, hinter dem er voller Mitleid und Grauen nahe Personen ahnt, zu denen er nicht gelangen kann." Regelmäßig fährt Sergej, der als Redakteur für Unterhaltungsromane arbeitet, nach Novi Sad zu seinen Eltern, ebenfalls ein Gefängnis, aber wenigstens ein bewohntes. Sein Leben ist rettungslos gescheitert und aus den Fugen, nur die Besuche beim Freund Eugen Patak, einem Juden, der gemeinsam mit Sergej gegen die Deutschen gekämpft hat, läßt Erinnerung an die runde Sache, die vielleicht ein Leben hätte ausfüllen können, hochkommen.

Eugen hat "nur" überlebt und blieb allein zurück, nachdem seine Familie von den Nazis vollständig vernichtet wurde. Er ist unfähig zu einem geregelten Leben und einer Arbeit. "Er sehnt sich nach den Abenden nach dem Zubettgehen, wenn ihn das Stöhnen, Murren und Schnarchen der Alten aus der Konzentration auf sein Buch rissen und ihm den Sinn raubten. Aber jetzt, da sie nicht mehr da sind, haben auch die Bücher, mit denen er sich gegen sie wehrte, keinen Sinn mehr. Um ihn ist Leere, wie auch in seinem Kopf." Eugen vermittelt Sergej ein vages Gefühl des Zu-Hause-Seins, und in diesem Gefühl spiegelt sich die traurige Ironie der historischen Entwicklung Jugoslawiens wider, als der Schatten des Widerstandes alle Gegensätze verschwimmen ließ und erst mit dem Verblassen des Heroismus der banale Alltag und die tiefen Klüfte zutage traten. Im Roman von Tisma werden diese Bezüge nicht erzählt, sondern treten in der Personenkonstellation und in der Erzählstruktur zutage.

Immer wenn die Gedanken um die Vergangenheit kreisen, sind alle Sprünge und Krater verschwunden, die Reise geht ohne Stocken in rasender Geschwindigkeit vor sich und man wähnt sich in einer anderen Zeit und einem anderen Buch. Die Figuren würden am liebsten in der Vergangenheit leben, die zwar lebensbedrohend war, in der aber noch alle Möglichkeiten einer anderen Entwicklung, die die Menschen nicht deformieren würde, enthalten war. Die Gegenwart ist unbarmherzig.

Der Widerstand wird nicht verklärt und liest sich keineswegs wie eine Heldensaga. Sergej arbeitet nach dem Krieg in der Botschaft in Warschau, wird Opfer einer persönlichen Intrige, bei der es um eine Frau geht, tötet seinen Rivalen und wird nach Belgrad zurückgeschickt. Doch nicht nur Sergej und Eugen leben in der Vergangenheit, ohne mit der Gegenwart fertigzuwerden. Auch Inge, das Kind von Deutschen, die nach dem Krieg vertrieben wurde und ohne materielle Sorgen, aber unglücklich, mit ihrem Mann Balthasar in Österreich lebt, hat die Ereignissen rund um ihre Flucht und die sexuellen Nötigungen nicht verwunden. Die Vergangenheit mit all ihren Vertretern, den Gescheiterten, den Überlebenden, den im Land Gebliebenen und den Zurückgekehrten hält ein Stelldichein in der Gegenwart. Der Anlaß dafür ist die Eigentumswohnung der Eltern von Sergej, auf die Balthasar und Inge rechtmäßige Ansprüche anmelden. Die Bewohner von Tschechows "Kirschgarten" haben den Untergang noch vor sich, die Gesellschaft rund um Sergej und Inge hat ihn bereits hinter sich.

Sie alle repräsentieren das ehemalige Novi Sad. Das wehmütige Gefühl jedoch, das der Hausherr beschwört, nämlich, daß "unser aller Heimat, die Vjovodina" zumindest kurz wieder auferstanden sei, trügt. Zuviel ist passiert. Die Familie Rudi'c kam der Familie Lebensheim nicht zu Hilfe, "als dieser nebst Tochter und Schwiegertochter und Enkeln von den Partisanen abgeholt und ins Lager verbracht wurde. Er konnte nicht! Nicht nur, weil er Zahnarzt war und kein Anwalt, sondern weil diese Gewalt keinem geschriebenen Gesetz unterworfen war, vielmehr dem stillschweigenden, von Mythos und Mystik umwehten Volkswillen; wäre er also vom Weg abgewichen, hätte er sein eigenes Herz verleugnet, das in diesem Moment der Befreiung so schlug wie das große gemeinsame Herz der nationalen Wiedergeburt." Daß der Sohn Jahrzehnte später mit der vertriebenen und kurzfristig zurückgekehrten Tochter Inge fast so etwas wie Glück erfährt, weckt die Illusion, daß es möglich ist, sich doch aus der Vergangenheit zu stehlen.

Der Kirschgarten bei Tschechow wird abgeholzt, die Eigentumswohnung bei Tisma nicht verkauft. Die Landpartien des kleinen, bescheidenen Glücks mit allen Beteiligten enden für Eugen tödlich und für Sergej und Inge ohne Befreiung. Die Personen in Tismas Roman bleiben zur Gegenwart verdammt. Mit den Mitteln der Vergangenheit, die Sergej gelernt hat, ist keine Befreiung mehr möglich. Eugens vermeintlicher Verrat zeigt ihn als einzigen Treuen. Eine Paraphrase auf den Heroismus, mit einem Repräsentanten, der nicht im Kampf fällt, sondern sich bei einem Badeunfall opfert.

Treue und Verrat Roman von Aleksandar Tisma, Carl Hanser Verlag, München 1999, 304 Seiten, geb., öS 291,- e 21,14

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