Unbezähmbare Urgewalt

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Gefährliche Untiere, die aus Bosheit ins Tal herunterstürzen. So stellten sich Bergbewohner früher Lawinen vor. Heute analysieren Computermodelle die Naturgewalt - an Schrecken hat sie deswegen nichts verloren.

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Gefährliche Untiere, die aus Bosheit ins Tal herunterstürzen. So stellten sich Bergbewohner früher Lawinen vor. Heute analysieren Computermodelle die Naturgewalt - an Schrecken hat sie deswegen nichts verloren.

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Nachdem Gott der Allmächtige den zweiten, dritten und vierten Februar 1689 einen so grausamen übergroßen Schnee hat fallen lassen, sind in unserm Tale viele Menschen und Vieh durch die herabfallenden Lawinen nebst vielen Häusern, Ställen, Bäumen und verschiedenen Gemächern zugrunde gerichtet worden. Auch viele Güter sind grausam verderbt." Eindrücklich schildert die Montafoner "Lawinen-Chronik" eine der schlimmsten Lawinenkatstrophen im Alpenraum, bei der 120 Personen ums Leben kamen.

Wer sich die Bilder der jüngsten Lawinentragödie vor Augen hält, kann ermessen, welch unermeßliches Elend Lawinen früher über die Alpenbewohner brachten. In der Chronik ist festgehalten: " Die Nacht hörte man die armen Verwundeten auf den Lawinen, oder halb verschüttet von diesen, um Hilfe rufen. Das Aussehen war bei vielen so entsetzlich, daß sich ein Stein hätte erweichen können."

Je mehr der Mensch die Alpentäler besiedelte, um so mehr war er der Lawinengefahr ausgesetzt. Der karthagische Feldherr Hannibal soll bei seiner Alpenüberquerung die Hälfte der Krieger und Tiere verloren haben. "Losgelöster Schnee zieht die Männer in den Abgrund, und Schnee, der von den hohen Gipfeln stürzte, verschlang die lebende Mannschaft", überliefert der Chronist Italicus den Unfallhergang. Nach Berichten des griechischen Geographen Strabon, haben Reisende im Kaukasus zu Beginn unserer Zeitrechnung eine Stange als Art Lawinenschnur und Sonde für Verschüttete mitgeführt. Lawinen beschreibt er als "riesige Schichten, die Karawanen in den Abgrund werfen".

Die unheimliche Faszination, die Lawinen ausüben, hängt auch mit der menschlichen Urangst zusammen, lebendig begraben zu sein. Der Bauarbeiter Gerhard Freissegger wurde im Winter 1951 bei Heiligenblut von einer Lawine verschüttet. Schon bald hörte er Schritte, Rufe der Bergungsmannschaften und spürte das Vibrieren der Sonden, doch er konnte sich nicht bemerkbar machen. Freissegger sprach zu sich selber, sang sich alle Lieder vor, die er kannte und kratzte mit den Fingernägeln an seinem eisigen Gefängnis. Nach zwölfeinhalb Tagen konnte er sich selbst befreien.

Schätzungsweise eine Million Lawinen donnern jedes Jahr vom Himalaja bis zu den Rocky Mountains zu Tal. 1970 ereignete sich in den Anden die bislang größte Lawinenkatastrophe: Eine Eislawine begrub mehrere Dörfer mit 18.000 Einwohnern unter sich. Als bislang letztes großes Lawinenjahr im Alpenraum galt 1951: Drei Meter Neuschnee waren innerhalb von zehn Tagen gefallen, und ein gewaltiger Sturm löste daraufhin allein in der Schweiz rund 1.000 Schadenslawinen aus. Die Situation in diesem Winter ist mit der damaligen "absolut vergleichbar", schildert Walter Ammann, Leiter des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung Davos, im Gespräch mit der Furche die Lage. Die Neuschneemengen während der jetzigen Schneefallperiode sind ähnlich groß wie im Januar 1951; die Gesamtschneehöhen werden heute teilweise sogar überschritten.

Gefahrenzonenpläne sind zu erneuern Das Davoser Institut ist im Bereich Lawinenforschung weltweit führend. Mit österreichischen Einrichtungen herrscht, laut Institutsleiter Amman, "täglicher Informationsaustausch", und einer Kritik am österreichischen Krisenmanagement hält der Schweizer Fachmann entgegen: "Wenn man die Palette von Interessenlagen berücksichtigt, können Krisenstäbe ihre Aufgabe nur falsch machen." Ammann plädiert dafür, daß man in Zukunft verstärkt die "effiziente Umsetzung von Lawinenwarnungen" und "die Erneuerung gewisser Gefahrenzonenpläne" thematisiert.

Horst Schaffhauser, Leiter des Instituts für Lawinen- und Wildbachforschung in Innsbruck, stößt ins selbe Horn: "Im Endeffekt wird jede Diskussion über die Lawinengefahr zur politischen Frage: Wie riskant wollen wir leben?" Schaffhauser bestreitet die Möglichkeit einer hundertprozentigen Sicherheit in den Alpen. "Einheimische aber auch Touristen müssen in der Risikoakzeptanz andere Maßstäbe anlegen. Zumindestens gehört über diese Frage einmal laut nachgedacht!"

In den letzten sieben Jahren wurde in Innsbruck ein dreidimensionales Lawinenmodell zur Berechnung von Staublawinen entwickelt. Staublawinen, wie die in Galtür, stieben mit einer Stundengeschwindigkeit von bis zu 350 Kilometern als feines Schnee-Luft-Gemisch ins Tal. Ein Kubikmeter Luft enthält dabei nur wenige Kilogramm Schnee; das Verheerende ist vielmehr der enorme Luftdruck.

Als Berechnungsgrundlage zur Simulation der tödlichen Wolke diente den Innsbrucker Lawinenforschern der Einspritzvorgang von Dieselmotoren, da hier ähnliche physikalische Prozesse ablaufen. "Vor einem Monat sind wir mit dem Modell fertig geworden", berichtet Schaffhauser. Und wenn SAMOS (Snow-Avalanche-Modeling-Simulation) schon früher zur Verfügung gestanden wäre? "Hätten wir die Unglückslawine in Galtür aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit gar nicht gerechnet", gibt der Institutsleiter unumwunden zu. Mit SAMOS sollte nun allerdings eine "Optimierung der Gefahrenzonenpläne möglich sein, und der Zonenplaner hat gegen den Politiker die besseren Argumente in der Hand".

Technische Verbauungen, raumplanerische Maßnahmen und das gezielte Auslösen von Lawinen sollen eine steigende Zahl von Lawinenopfern, trotz starker Zunahme an Wintersportlern, verhindern. Herbert Kronfuß arbeitet in Innsbruck an einem Projekt zur Bewirtschaftung von Wildbach- und Lawineneinzugsgebieten. Das hohe Gefahrenpotential sieht er weitestgehend darin, daß zur Hochsaison in den Schigebieten "sehr viele Leute auf einem sehr kleinen Fleck zusammenkommen". Inneralpin sind "sicher die Grenzen des Machbaren erreicht". Mit den derzeit praktizierten Sicherungsmethoden "können mittlere Gefahrenverhältnisse gemeistert werden", meint Kronfuß, doch er fügt hinzu: "Jahrhundertereignisse kann der Mensch nicht in den Griff bekommen!"

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