"Das Leben verlangt manchmal viel“

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Franz Lorenz war einer der letzten Lastenträger im Alpenraum. Dann hat ihm das Schicksal eine Last aufgebürdet, die selbst für ihn schwer zu tragen war: den Tod seiner Frau und seiner schwangeren Schwiegertochter bei der Lawinenkatastrophe von Galtür.

Die Lawine kam in der Abenddämmerung. "Ein Rauschen, ein dumpfes Geräusch, danach Stille. Dann hörten wir die Sirenen wie früher beim Fliegeralarm“, erzählt Franz Lorenz. Die Dorfbewohner liefen zu den verschütteten Häusern, mit bloßen Händen und Schaufeln begannen sie zu graben. Auch Lorenz schaufelte verzweifelt. Wo einst das Haus seines Sohnes Gottlieb gestanden war, türmte sich in der Dunkelheit meterhoch Schnee. Die Helfer gruben sich vom zerstörten Teil im Obergeschoss nach unten. "Schließlich fanden wir in der Küche im Erdgeschoss unsere zwei Frauen“, sagt Lorenz und schweigt. Die Toten waren seine Ehefrau Hildegard und seine schwangere Schwiegertochter Edith.

Im Februar 1999 schneite es in Galtür im Tiroler Paznauntal schon seit Tagen unaufhörlich. Auf 2700 Metern braute sich ein Unheil zusammen: Die Schneewechten am Berg wurden immer schwerer, bis sie sich lösten und am 23. Februar 1999 mit voller Wucht ins Tal stürzten.

Man meint eine Träne auszumachen, aber bevor sie sich ihren Weg bahnen könnte, wischt sich Franz Lorenz über die Augen. "Wenn wir Alten feig sind, wie sollen denn dann die Jungen zurechtkommen? Man darf nicht weich sein. Das Leben ist halt so, manchmal verlangt es viel, manchmal weniger“, sagt der heute 85-Jährige. Am kleinen Friedhof bei der alten Dorfkirche steht er am Grab seiner Frau und Schwiegertochter. Links davon wurde eine Gedenkstätte für die 25 getöteten Urlauber errichtet. An den eingravierten Namen sieht man, dass zum Teil ganze Familien ausradiert wurden. Die schwere Lawinenkatastrophe mit 31 Toten in Galtür ist auch zwölf Jahre später allgegenwärtig. Nicht zu übersehen sind die hohen Mauern, die vor weiteren Lawinen schützen sollen. 18 Tonnen Beton seien verarbeitet worden, erzählt Lorenz. Mitten im Ort steht das Alpinarium, ein Museum zum Thema. Lorenz schaut hinauf: Ein Hubschrauber fliegt über das Dorf hinweg. "Wenn ich das höre, ist das immer unangenehm für mich“.

Die Todesnachricht geschultert

Damals nach dem Unglück, als sich das Wetter wieder besserte, machte sich Lorenz mit dem Diakon per Helikopter auf zur Jamtalhütte auf 2.671 Metern Seehöhe, wo sein Sohn Gottlieb eingeschneit ausharrte und noch nichts vom Tod seiner Mutter, seiner Ehefrau und des ungeborenen Kindes wusste. Den Weg, den er unzählige Male zu jeder Jahreszeit gegangen war, flog er so schwer beladen wie noch nie hinauf. Die Todesnachricht zu überbringen war schwerer als all die Lasten, die er zuvor hinaufgetragen hatte.

Franz Lorenz war bis in die 1960er Jahre einer der letzten Lastenträger im Alpenraum, als Hütten noch nicht mit Seilbahnen, Helikopter und Geländefahrzeugen versorgt wurden. Bis zu 60 Kilo an Gütern hat er geschleppt, im Sommer mit Hilfe von Pferden. Gemeinsam mit seiner Frau, mit der er 43 Jahre verheiratet war, hat er die Hütte bewirtschaftet und als Bergführer vor allem in Tirol gearbeitet. "In fünf Jahrzehnten bin ich immer wieder diese zehn Kilometer rauf zur Hütte und wieder hinunter, jedes Mal 500 Höhenmeter zu Fuß, im Winter mit den Skiern. Ich habe mir einmal ausgerechnet, dass ich damit dreimal um die Erde gegangen bin.“ Wie für viele Bergsteiger ist das Gebirge auch für ihn eine Kraftquelle: "Wenn ich gehe, werde ich ruhiger, die Gedanken werden klarer, man kommt zum Wesentlichen“.

Als Bergbauernbub mit sechs Geschwistern war eine höhere Ausbildung für ihn nicht möglich, doch heute würde er gerne Philosophie studieren. "Ich glaube aber nicht, dass die großen Denker gescheiter sind als ich durch das Gehen“, sagt er lachend. Auch heute wandert der rüstige Tiroler noch viel: "Hier ein Eisen, dort ein Schrauben, aber sonst geht es mir gut.“ Mehrmals in der Woche führt er die Hausgäste durch die Berge: Seine verstorbene Frau Hildegard hat in Galtür die Basis für das heutige "Alpenhotel Tirol“ geschaffen: Nun ist es mit vier Sternen ausgezeichnet und wird von Sohn Peter als "Wanderhotel“ geführt. Vor allem der Wintertourismus habe sich in den letzten Jahren stark zum Eventtourismus gewandelt. "Im Sommer muss man sich die Erlebnisse erst verdienen“, sagt Franz Lorenz, "aber wenn ein Gast vier Wanderungen in einer Woche macht, ist er am Ende stärker und hat mehr erlebt.“

Neben den Bergen sind für ihn vor allem seine fünf Enkelkinder eine Quelle der Freude. Einer seiner Enkel habe ihn erst vor Kurzem wieder zum Lachen gebracht: "Neni, (Opa, Anm.), wenn du dich bückst, sieht man schon, dass du saualt bist“, habe er zu ihm gesagt. Die Kinder helfen ihm auch, versöhnlich zu sein. Die Frage nach Schuldigen beim Lawinenunglück lehnt er ab: "Es wurde nicht zu spät gewarnt. Die meisten Toten gab es deshalb, weil viele nicht in den Häusern blieben“, sagt er. "Eine Lawine ist eine Naturgewalt, die wir letztlich nicht in der Hand haben.“

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