6679614-1961_37_10.jpg
Digital In Arbeit

FERIEN AM MEER - ANNO DAZUMAL

Werbung
Werbung
Werbung

Es war eine Tradition in vielen Prager Familien, die Ferien an der Ostsee zu verbringen. Die Ostsee war das nächste Meer, hatte einen wunderschönen Strand und dahinter — den meisten Seebädern gegenüber ein unendlicher Vorteil - herrliche Wälder. — Da alles, was mit Prag zu tun hat, irgendwie in die Literatur eingeht, so hat auch die Beziehung der Prager zur Ostsee einen literarischen Niederschlag gefunden. Max Brod erzählt davon in seinem Roman „Der Sommer, den man sich zurückwünscht“. Als das Buch erschien, veranstaltete gerade eine amerikanische Zeitschrift eine Umfrage bei Schriftstellern, welches Buch des Jahres sie am liebsten geschrieben hätten. Mich zu fragen vergaß man, sonst hätte ich Brods Roman genannt.

Die Reise an die Ostsee allerdings war für Familien nicht ganz ohne Umstände. Da fuhr man zum Beispiel abends von Prag weg, die ganze Nacht hindurch nach Berlin; an der Grenze mußte meine Mutter zur Zollrevision aussteigen, denn mit vier Kindern und einem Dienstmädchen kam man doch mit Handgepäck nicht aus, sondern hatte einen Riesenkoffer, den die Beamten untersuchen wollten. Man fuhr natürlich in jener dritten Klasse, die sich seit kurzem hochstaplerisch zweite nennt; und wenn man am Morgen in Berlin ankam, begannen die Sensationen. Welch ein Nest war doch Prag im Vergleich mit Berlinl Vor jedem Fenster des Wagens stand ein Träger; unten wartete ein Schutzmann, der auf Metallstäbchen die Nummern der Droschken trug, die draußen warteten. Wir brauchten ihrer zwei, offene Wagen, die Kutscher mit Lackzylindern; wenn ich mich recht erinnere, gab es auch Droschken „zweiter Güte“, geschlossen, mit Gepäckträgern, und nun rollte man über den in Prag unbekannten Asphalt vom Anhalter Bahnhof zum Stettiner Bahnhof, somit ungefähr quer durch die ganze Stadt. Schon standen damals die Joachime und Kasimire in der Siegesalle Spalier, und ein Berliner Onkel richtete an uns die Frage, die man vom ersten Geburtstag der Siegesallee an in Berlin an jeden Fremden richtete: „Wißt ihr auch, was die alle vorstellen?“ Beim ersten Mal wußten wir es nicht, und beim zehnten Mal waren wir höflich genug, so zu tun, als wüßten wir es noch immer nicht. Und der Onkel konnte triumphierend erklären: „Das linke Bein“.

Vom Stettiner Bahnhof ging es nach Stettin, wo wir einen Wahlonkel und eine Wahltante hatten, ein kinderloses Ehepaar, das uns sehr verwöhnte. Vollzog sich die Reise ohne Unterbrechung — wie viele Varianten gab es, mit Übernachten in Berlin oder in Stettin! —, so fuhr man in Stettin ans „Bollwerk“, wo ein nicht gerade sehr tonnenreicher weißer Dampfer unser harrte, für uns damals aber immerhin auch ein Erlebnis, denn nun begann die große Fahrt. Sie ging die Oder hinunter ins Pommersche Haff, das manchmal recht bewegt sein konnte, und das weiße Schiff unbehaglich schaukeln ließ. Man war froh, als es endlich anlegte. Der Anlegeplatz hieß „Laatzinger Ablage"; ob es ein Dorf oder überhaupt eine Siedlung war, dessen entsinne ich mich nicht, nur, daß dort einige hohe, für uns seltsame Fahrzeuge standen, in die wir uns samt Koffer verstauten. Und nun fuhr man, von zwei Pferden gezogen, in den Badeort Misdroy. Auch hier gab es ungeahnte Sensationen; darunter war eine der größten der „Büttel“,, wahrscheinlich ein pensionierter Unteroffizier, der eine Uniform trug-’und mvjeder’Straßenaeke mehrmals am Tage die wichtigyfeti3N’duigkeiteh’ vėirk ndete, Wie- etwa, daß auf der Landungsbrücke ein Feuerwerk abgebrannt werden sollte oder auch, daß es „heute abend im Kurhaus Fri- cas.se vom Huhn" gab. - Wo sind, ach, solche Neuigkeiten hingekommen?!

Pragern mit der Ostseeküche imponieren zu wollen, war kein sehr aussichtsreiches Beginnen, aber die geräucherten Flundern gehören doch zu den guten Jugenderinnerungen, und ganz eindrucksvoll waren für zehn Pfennig große Stücke Apfelkuchen, über die für weitere zehn Pfennig aus einem mächtigen Topf mit dem entsprechenden Schöpflöffel eine Lawine von Schlagsahne hereinbrach. Der Vormittag gehörte dem Strand, mit Burgenbauen und Wasserstrampeln; die Mütter brauchten sich keine Sorgen zu machen: es gab keine Ebbe, keine Flut und nur selten richtige Wellen. Den Nachmittag über spielte man im Wald, baute keine Burgen, sondern Mooshütten, und sammelte Pilze. Spazierengehen war bei den Kindern nie sehr beliebt, das ist eine Erfindung der Erwachsenen; aber es gab doch bestimmte Ziele, die man mehrmals im Verlauf eines Sommers erreichen mußte. So vor allem den „Kaffeeberg", wo natürlich eine Wirtschaft war und man etwas Bräunliches trank. Nachher konnte man den sandigen Hang zum Strand hinunter halb stapfen, halb rutschen. Und ein ganz weiter Ausflug führte, manchmal sogar mit einem Wagen, zu dem Jordansee, wo man auf Kähnen zwischen Wasserrosen glitt. — Am Strand befreundete man sich mit den deutschen Jungen, tauschte Lebenserfahrungen aus; verschiedene Abgründe wurden überbrückt. Für uns war es immer wieder ein Anlaß zum Staunen, wenn wir die deutschen Jungen viel und ernst von der Schule reden hörten, der wir möglichst wenig Platz in unseren Gedanken und Gesprächen gönnten, es sei denn, um uns über einen Lehrer lustig zu machen.

Am Nachmittag kam dann der Dampfer, „Sequens“ hieß der eine, „Freia“ der andere, sehr alte Kästen; aber ein Hauch der Weite umwitterte sie, denn manchmal fuhren sie nach Rügen, das uns damals noch unerreichbar schien. Und abends kamen die Mücken. Sie waren natürlich auch tagsüber da, aber am Abend wurden sie noch blutdürstiger, und auf unseren nackten Waden waren manchmal ziemlich große Beulen zu sehen. Misdroy hatte den Ruf, das mückenreichste Bad an der Ostsee zu sein. Das war ungerecht; es gab Sommer ohne Mücken, und andere Bäder, wie etwa Zinnowitz, hatten ihrer gewiß nicht weniger.

Einmal fand meine Mutter, die Reise nach Misdroy sei doch gar zu mühsam und umständlich und wir sollten es mit einem anderen Ostseebad versuchen. Der Oberregisseur des Prager Theaters — Günther Pettera hieß er — war in so ein anderes Bad gereist. Günther Pettera war nicht nur damals für uns ein Begriff. Zu Besuch bei uns, begann er eines Nachmittags ganz giundlos zu rezitieren:

„Und herrlich, in der Jugend Prangen,

Wie ein Gebild’ aus Himmelshöhn,

Mit züchtigen, verschämten Wangen Sieht er die Jungfrau vor sich stehnl

„Die Kraniche des Ibykus“ wußte ich schon mit sieben Jahren auswendig, bis zur „Glocke" aber war ich nicht vorgedrungen, und für die züchtigen, verschämten Wangen der Jungfrau hatte ich noch nicht das richtige Verständnis. Aber er sprach es mit einem Pathos, darin der nie erfüllte Wunsch nach einem Engagement ans Burgtheater zittern mochte. Daß er ein tüchtiger Regisseur war, darunter hatte ich später zu leiden, als ich selber einer wurde, wenn auch kein tüchtiger. Da nämlich, sobald man für eine Neueinstudierung eines Klassikers fünf Proben verlangte, hieß es: „Pettera hat so was — etwa die „Räuber“ oder „Hamlet“ — mit drei Proben gemacht!“

An diesen Günther Pettera nun wandten wir uns, um zu erfahren, wie es mit dem Ostseebad stand, darin er seine Ferien verbrachte. Und aus seiner Antwort ist ein Satz in unserer Familie sprichwörtlich geworden. Er schrieb nämlich: „Nach angenehmer achtstündiger Wanderung durch den Wald erreicht man den Ort“ Da zogen wir es vor, der „Laatziger Ablage“ treu zu bleiben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung