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Martin Walsers neuer Roman "Der Augenblick der Liebe".

In nichts ist Walser so verlässlich wie in seiner Unverlässlichkeit. Da hatten sich seine Leser mittlerweile damit abgefunden, dass der Proust vom Bodensee thematisch in die deutschen Metropolen abgedriftet war. Und nun, mit seinem neuen Roman "Der Augenblick der Liebe", kehrt er auf einmal völlig unangemeldet an die heimischen Gestade zurück.

Alte Bekannte

Wiedersehen mit einem alten Bekannten: Mit Gottlieb Zürn, dem sympathisch unfähigen Immobilienmakler, der in dem Roman "Jagd" vor nunmehr 16 Jahren zurückgezogen im Garten seines Eigenheims saß, an seinen "Achillesversen" schmiedete und die (schlecht gehenden) Geschäfte schon lange an seine Frau Anna übergeben hatte. Und dort tauchte damals das Ur-Weib Gisi auf, so eindrücklich, dass der sogleich enthusiasmierte Gottlieb noch in derselben Mondnacht mit ihr nackt durchs Schilf patschte.

Walser liebt die Rituale und die leitmotivischen Wiederholungen. Wieder erscheint auf der Zürnschen Terrasse ein weibliches Prachtexemplar und wieder strahlt es sogleich sinnliche Signale aus: Die aus North Carolina angereiste Philosophie-Studentin Beate, die statt des obligaten Blumen-Straußes mit einer einzigen prallen Sonnenblume aufwartet. Gottlieb, nunmehr Mitte 70, der aus der "trübsinnigen Seelensauce" seines Ehedaseins, "diesem Käfig, der Biographie heißt", heraus möchte, ist sogleich Feuer und Flamme. Schon dieser Mund, "der selbst durch genaues Schminken nicht fassbar ist", kommt ihm unflätig vor.

Wie trefflich sich doch nun eines zum anderen fügt: Beate schreibt ihre Dissertation über Julien Offray de La Mettrie, der als Arzt am Hofe Friedrichs des Großen lebte, ein radikaler Vorläufer Rousseaus, der die Sinnenfreude und Abschaffung der Gewissensbisse predigte.

Und da Gottlieb vor ewigen Zeiten über La Mettrie einen Aufsatz veröffentlicht hat und die Botschaft des Philosophen ganz im Sinne der beiden ist, bietet sich nichts selbstverständlicher an, als dass er an einem La Mettrie-Kongress in Berkeley ein Referat halten wird.

Doch bis dahin bleibt noch ein wenig Zeit, die mit Briefeschreiben überbrückt wird. Was nun auf den nächsten 80 Seiten im Kapitel "Zusammenfinden" folgt, ist ein buntes Potpourri aus Verbalerotik und philosophischem Diskurs, das ebenso amüsant wie anstrengend sein kann.

Immer laszivere Dialoge

Der leidenschaftliche Philologe Walser fordert sein Recht: In Form von französischen Originalzitaten, flankiert von amerikanischen Campus-Nachrichten. Zugleich läuft der Count-down und mit ihm wächst auch die Bereitschaft zu immer lasziveren Dialogen. Sprachlust unter PhilosophieExperten: Gottliebs Ding mutiert vom "Ding an sich" zum "erträumten Unding".

Tut am wenigsten weh

Doch so sehr Walser seine beiden Delinquenten sich sexuell hochschaukeln lässt, so tief ist der Fall, den er für den fortpflanzungssüchtigen Gottlieb vorbereitet hat. Der Amerika-Besuch wird zu einem doppelten Desaster. Nicht nur, dass Gottliebs Stimmbänder versagen, er gerät auch noch in den Verdacht, sich mit Hilfe La Mettries einen Freispruch von der deutschen Schuld erschwindeln zu wollen. Wer an Walsers Paulskirchenrede denkt, denkt richtig.

Mit dem Amerika-Besuch wird "Der Augenblick der Liebe" von den Augenblicken der Wahrheit abgelöst. Der bitterste von allen: Gottlieb glaubt nicht mehr an das Wunder, dass diese junge Studentin ihn lieben kann. "Der Alte versteht den Jungen so wenig wie der ihn," resümiert er. "Es gibt keine Stelle, wo Jugend an Alter rührt oder in Alter übergeht. Es gibt nur den Sturz."

Wieder einmal schreibt Walser gegen Schönfärbereien an. Wieder taucht er das Seelenleben seiner Hauptfiguren in das unvergleichliche Parlando seiner Sätze, in der Distanz und Sympathie zugleich Platz haben. "Sich von Büchern entdecken lassen. Tut am wenigsten weh", lässt er Beate schwärmen. Und verrät damit nichts anderes als das Geheimnis seines eigenen Erfolgs.

Der Augenblick der Liebe

Roman von Martin Walser

Rowohlt-Verlag, Reinbek 2004

253 Seiten, geb., e 20,50

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