Martin Walser - © FOTO: APA/dpa/Patrick Seeger

Zum 80. Geburtstag von Martin Walser: "Kommen aber gehen"

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Ein Porträt zum 80. Geburtstag des Schriftstellers - von seinem Biographen Jörg Magenau.

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"Meine Muse ist der Mangel", sagt Martin Walser. Das, was ihm fehlt, treibt ihn an. Es gibt ja genug Unvollkommenheiten in der Welt, die sich nur in der literarischen Imagination überwinden, verbessern, verschönern lassen. Der Mangel ist eine unerschöpfliche Muse. Anders wäre Walsers enorme Produktivität nicht zu erklären, die seit der ersten Publikation einer kurzen Geschichte im September 1949 niemals versiegte. Schreibend stemmt er sich der Welt und dem, was ihm widerfährt, entgegen, damit die Dinge "einen weißen Schatten" werfen. Auch für seine Leser will er aus jedem Roman den denkbar besten Schluss herauswirtschaften. Nur das Schönste! Doch weil das nicht gelingen kann, muss er immer weiter schreiben. Mit Schönrednerei hat dieses Verfahren nichts zu tun. Eher mit der Einsicht, dass man das Bestehende vielleicht weniger durch Kritik, als durch Bestätigung verändert.

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Kreativität entsteht als Reibungsenergie beim Überwinden von Widerständen. So ein elektrisch aufgeladenes Dauer-Spannungsverhältnis unterhält Martin Walser zur deutschen Geschichte und zur deutschen Öffentlichkeit. Zunächst war er selbst an der Etablierung der öffentlich-rechtlichen Strukturen beteiligt, als er im Sommer 1949, zwei Monate nach der Gründung der Bundesrepublik, als junger Journalist zum gerade entstehenden Süddeutschen Rundfunk kam, wo er zunächst fürs Radio arbeitete. In der Unterhaltungsabteilung schrieb er Kolumnen für die Nörgelecke der Hausfrauen. Als Reporter befasste er sich bald mit Wohnungs-und Flüchtlingsproblemen in der Nachkriegsgesellschaft. Auch beim Aufbau des Fernsehens wirkte er mit - ein Pionier der demokratischen Öffentlichkeit.

Öffentlich privat sprechen

Die damaligen, stark von Personen und Freundschaftsbeziehungen abhängigen Erfahrungen prägten sein Medienbild. Er begriff Öffentlichkeit als erweiterten Privatraum, gewissermaßen als Wohnzimmer, oder als imaginären Schankraum in der Gastwirtschaft des Elternhauses im katholischen Wasserburg am Bodensee. Tatsächlich aber okkupierten die Medien spätestens mit der Einführung des so genannten Privatfernsehens allmählich das Private und verwandelten die Wohnzimmer in öffentliche Orte. Walser mischte immer fleißig mit in der Öffentlichkeit und verteidigte zugleich die primäre Kraft persönlichen Empfindens. Er reklamierte für sich das Recht auf Einmischung in die öffentliche Debatte und den Rückzug in die Poesie. Dass er öffentlich und doch zugleich scheinbar "privat" spricht, hat nicht nur in der so heftig kritisierten Paulskirchenrede 1998 für Verwirrung gesorgt.

Dazugehören im Abseits

Der Drang dazuzugehören war schon früh spürbar. Er wollte mitreden und wollte, dass über ihn geredet würde. Er wollte "Ruhm, Ruhm, Ruhm - und eine neue Sommerhose", wie er im Tagebuch schrieb. Sein Debütroman Ehen in Philippsburg aus dem Jahr 1957 handelt von diesem Aufstiegswillen. Zugleich gab es aber auch die gegenläufige Tendenz: sich zurückzuziehen, abseits zu stehen, unberührbar zu sein und sich ganz und gar aufs Schreiben zu konzentrieren. "Kommen aber gehen" heißt eine Kapitelüberschrift im Roman Augenblick der Liebe aus dem Jahr 2004 - eine Formel, die als dialektisches Grundmotiv auch über seinem Gesamtwerk stehen könnte. Sie lässt sich auf die Ehe-und Liebesverhältnisse seiner Romanfiguren anwenden, die unentwegt zwischen der Geborgenheit der Familie und der Abenteuerlust eines Flüchtigen hin und hergerissen sind. Sie passt auf seine lautstarken politischen Unzugehörigkeiten. Sie bezeichnet aber auch seine Existenz zwischen heimatverwurzelter Bodenseeliebe und andauernder Reiselust: ein Weltbürger als Provinzbewohner.

Walser wurde zu einem der für die bundesdeutsche Geschichte so typischen Schriftsteller, weil es ihm gelang, öffentliches Engagement und poetische Empfindsamkeit miteinander zu verbinden. Die Einmischungspflicht leitete er weniger aus der Gegenwart als aus der deutschen Geschichte ab. Dass es keine adäquate Antwort auf Auschwitz gibt, ja dass "seit Auschwitz noch kein Tag vergangen ist", wie er 1979 schrieb, ist wohl der schrecklichste aller Mängel, die ihn zum Schreiben treiben. Nichts wäre ihm lieber, als das deutsch-jüdische Verhältnis in eine nie dagewesene Harmonie zu überführen, und doch ist ihm jederzeit bewusst, dass es ihm unmöglich ist, die Seite der Täter, der Vergangenheitsbeladenen auch nur für einen Moment zu verlassen.

Chronik der Gegenwart

Seine Bücher lassen sich als Chronik der Bundesrepublik lesen. Allein Anselm Kristleins Weg vom Vertreter und Werbetexter in Halbzeit zum reisenden Intellektuellen im Einhorn zum Leiter eines betrieblichen Erholungsheims im Sturz bildet drei Dekaden der gesellschaftlichen Entwicklung vom Wirtschaftswunder bis in die erschöpften 70er Jahre ab. Die Kristlein-Trilogie behandelt die Erfahrungen, die ein empfindsamer, aufstiegswilliger Kleinbürger währenddessen machen konnte. Helmut Halm und, mehr noch, der schreibende Immobilienmakler Gottlieb Zürn sind Kristleins legitime Nachfolger, mit denen sich die Linie bis in die Gegenwart verlängern lässt.

Walsers öffentliches Wirken erscheint im Rückblick als fortgesetztes Außenseitertum in wechselnden Rollen. In der restaurativen Adenauerzeit galt er als moralisch fragwürdiger Gesellschaftskritiker. Auschwitz-Prozess und Vietnamkrieg ließen ihn in den 60ern so weit nach links rücken, dass er in den 70ern als Kommunist wahrgenommen wurde - ein vernichtendes Etikett in der Zeit der Berufsverbote und des Kalten Krieges. Die 80er machten aus ihm einen Deutschnationalen, weil er nicht bereit war, die Teilung des Landes als Endzustand der deutschen Geschichte zu sehen. Seit der Paulskirchenrede 1998 gilt er als Apologet des Schlussstrichs, seit dem Skandal um "Tod eines Kritikers" gar als Antisemit. Schlimmeres lässt sich einem Intellektuellen hierzulande nicht nachsagen.

Er galt als Apologet des Schlussstrichs, [...] gar als Antisemit. [...] Walser hat solche verkürzenden oder schlicht falschen Etikette durch sein polemisches Talent immer wieder provoziert.

Walser hat solche verkürzenden oder schlicht falschen Etikette durch sein polemisches Talent immer wieder provoziert. An den wechselnden Rollenzuschreibungen lassen sich aber vor allem die Korrektheitskonjunkturen des öffentlichen Meinens ablesen, gegen die er mit anarchischem Instinkt rebellierte. Walser blieb sich unterdessen konsequenter treu, als seine Kritiker meinen. Er hat die Heucheleien und Halbheiten im deutschen Selbstverständnis stets mit feinem Sensorium erspürt. Meist war er seiner Zeit nur ein paar Jahre voraus. Was er als Stimmungsavantgardist formulierte, war häufig das, was etwas später zum Konsens wurde.

Doch eigentlich sprach er immer nur über sich selbst und über sein Empfinden. Er hat sich nie als politischen oder gar gesellschaftskritischen Autor verstanden. Er wollte sich öffentlich artikulieren, um zu sehen, ob es anderen auch so ginge wie ihm, ob er allein sei oder auf Zustimmung hoffen könne. Das schloss den Rückzug ins Gefühl, ins katholisch geprägte Gewissen, in die "Wildnis des eigenen Inneren" und die harte Abkehr vom öffentlichen "Meinungsgewerbe" jederzeit mit ein. "Kommen aber gehen" - auch hier.

"Baden im Namenlosmeer"

Eine Sprache des reinen Empfindens, die keine Rücksichten auf Opportunitäten nimmt, ist sein Ideal, dem er sich im Alter immer radikaler annähert. Poetisch ist er auf der Suche nach einer Ausdrucksweise, die unbelastet vom Bedeutungstransport der Worte so etwas wäre wie Musik oder wie Vogelgesang. Zu seinem Bedauern ist er kein Lyriker, sondern bloß einer, der gelegentlich auch Gedichte schreibt. Sein idealer Roman aber sollte so aussehen, dass jeder Satz für sich alleine bestehen könnte. Er verglich das einmal mit einer Herde von Lämmern auf einer Weide im Hochgebirge, deren Rücken von der Sonne beschienen werden. Jeder dieser Lämmerrücken wäre dann ein Satz im idealen Roman.

"Sich trennen von den Kennern, namenlos baden im Namenlosmeer", schreibt er in den Balladen Das geschundene Tier, die jetzt zu seinem 80. Geburtstag erschienen sind. Sie versuchen eine Annäherung an diese Poetik, ohne sie, wie jedes Ideal, jemals erreichen zu können. Das ist die äußerste denkbare Zuspitzung: ein Abschied von der Welt und ein Willkommen des Lebens. Denn vom Leben - und daran lässt er keinen Zweifel - kann man ja nie genug bekommen.

Jörg Magenau ist freier Autor und lebt in Berlin. 2005 erschien sein Buch "Martin Walser. Eine Biographie" im Rowohlt Verlag.

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