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"Ein fliehendes Pferd". Martin Walsers Novellenerfolg

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Im allgemeinen haben Novellen und andere Bücher im Bändchen-Format geringere Chancen, vielen Lesern unter die Augen zu kommen, schon darum, weil die Auslagen des Buchhandels hauptsächlich dickleibige Romane und kostspielige Bildbände ausstellen. Das Schaufenster ist eben der Anzeigenraum des Sortimenters, und schlanke Novellen sind billiger, der Verdienst ist schmäler.

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Im allgemeinen haben Novellen und andere Bücher im Bändchen-Format geringere Chancen, vielen Lesern unter die Augen zu kommen, schon darum, weil die Auslagen des Buchhandels hauptsächlich dickleibige Romane und kostspielige Bildbände ausstellen. Das Schaufenster ist eben der Anzeigenraum des Sortimenters, und schlanke Novellen sind billiger, der Verdienst ist schmäler.

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Ausgenommen, wenn so ein Büchlein zehnmal so oft verkauft wird. So eine überraschende Ausnahme bildet die neue Novelle „Ein fliehendes Pferd“ von Martin Walser, die binnen drei Monaten schon beim 90. Tausend hält. Sie wurde mit Einmütigkeit geradezu stürmisch begrüßt, in den großen Zeitungen und Magazinen der Bundesrepublik und auch im deutschen Fernsehen. Selbst der überaus einwandfreudige Marcel Reich-Ranicki, Groß- und Chefkritiker dortzulande, der sonst in der besten Suppe ein Haar zu finden vermag, lobte das Buch uneingeschränkt als „ein Glanzstück deutscher Prosa“ und den Autor als „Meister der Beobachtung und der Psychologie“.

Tatsächlich, in diesen zwei Sparten, vor allem, brilliert die 150-Seiten-Er-zählung. Sie ist überaus spannend, doch geht es nicht um äußere, es geht um eine für die vier Figuren von Seite zu Seite schwerer erträglich werdende innere Spannung, die bis zur Überspanntheit reicht, ohne eigentlich so zu wirken. Es ist die Geschichte zweier Ehepaare, die - scheinbar grundverschieden - am gleichen Zeitübel laborieren. Sie fühlen sich von den Forderungen des Arbeits-, Gesellschaftsund Ehelebens total überfordert und sind, um dieses leidige Gefühl loszuwerden, ständig auf der Flucht. Klaus Buch und seine um 18 Jahre jüngere Frau „Hei“ (= Helene) nach außen, sein einstiger Schulkollege Helmut Halm und dessen altersentsprechende Sabine nach innen. Midlifecrisis als eher männliches, jedoch ansteckendes Phänomen: Die beiden Altersgenossen sind sechsundvierzig.

Zufallsbegegnung am Urlaubsort, den die Halms schon elfmäl frequentierten, die Buchs zum drittenmal, ohne einander je getroffen zu haben. Die Jugendfreunde haben sich seit 23 Jahren nicht gesehen. Freunde? Helmut, mit “Bauch, und sowieso schlecht aufgelegt, weil er Sabine nur widerwillig seit drei Tagen durch den Fremdenverkehrswirbel folgt und lieber im stillen Quartier Kierkegaards Tagebücher studieren möchte (er ist Studienrat), Helmut also hat den sportlich auf ihn zustürzenden Klaus, den er für 20 Jahre jünger hielt, gar nicht erkannt, erinnert sich seiner nicht und glaubt so lange an eine Verwechslung, bis er den vom anderen behend ausgepackten Erinnerungsfetzen glauben muß. Klaus ist ganz Wonne, Helmut nichts als sauer.

Er will seine Ruhe haben, sich verkriechen, was er ständig versucht, ohne daß es ihm gelingt; Klaus jagt der Unruhe nach, fürchtet den Trott und träumt von einem Leben auf den Bahamas - ein Phantast, der sich mit Fitness darüber hinwegtäuschen will, daß er ein Versager ist. Die Ehefrauen müssen mitmachen: Sie machen etwas mit dabei. Denn Helmut in seiner „ruhigen, festen Art“ (wie Klaus irrtümlich, hoffnungsfroh wie immer, meint) verbirgt introvertiert die gleichen Schwächen, die Klaus extravertiert überspielen muß. Man spielt unselig Theater, spielt sich gegenseitig eines vor, Helmut merkbar widerwillig, und die Frauen spielen notgedrungen mit, absentieren sich aber instinktiv vor der dramatischen Katharsis: Klaus und Helmut segeln allein in den Sturm hinein, der den Ausbruch bewirkt. Auch er mißlingt schließlich, macht aber das allgemeine Mißlingen offenbar.

Das alles wird vom Autor aus psychologisch fundierter, mitleidloser Beobachtung verhaltenen Selbstmitleids registriert, im Tonfall einer interessiert-unbeteiligten Diagnose. Die vier sind so definiert, daß sie beispielhaft für eine breite Schichte werden. Sozialkritik in Form einer makabren Analyse von zweimal zwei Einzelfällen.

BUCH

Ein fliehendes Pferd

Von Martin Walser
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1978
151 Seiten, öS 138,90.

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