Neue Gedichtbände: Ein lyrischer Streifzug & die Kraft poetischer Materialität

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„ganz dicht“ stellt jeweils rund um ein Dicht-Fest in der Alten Schmiede Lyrik vor.

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„ganz dicht“ stellt jeweils rund um ein Dicht-Fest in der Alten Schmiede Lyrik vor.

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Ich bin kein Mensch am Fenster,/ich bin eine ernsthafte Wanderin – “, heißt es im allerersten Gedicht mit dem Titel „Entgeistert“. An einer anderen Stelle im selben Gedicht: „Meine Seele ist ein Insekt,/das im Äther schwebt/auf der Suche/nach gemütlichen/Sümpfen/“. „Unerwidert“, so lautet der Gedichtband von Bisera Dakova.

In 32 Gedichten und 96 Anrufungen unternimmt ein „Ich“ einen existenziellen Streifzug durch die Stadt Wien und durch das eigene Denken und Empfinden. Die Anrufungen an ein konkretes, imaginiertes oder erträumtes „Du“ sind wie kurze manchmal beinahe verzweifelte Briefzeilen formuliert und unterscheiden sich meist auch dadurch von den Gedichten, dass sie nicht in Verszeilen, sondern wie ein Prosatext im linksbündigen Flattersatz und ohne Titel gesetzt sind. Sechs Fotoausschnitte von Skulpturen in schwarz-weiß unterstreichen die melancholische Grundstimmung der Stadt, die mit der des lyrischen Ichs korrespondiert.

Die Gedichte sind allesamt ungereimt, in freien Rhythmen und manche sind Dichterinnen oder Dichtern zugeeignet wie Stefan George oder Friederike Mayröcker. All das geschieht in einem sehnsuchtsvollen existenziellen Grundgestus des Suchens, Hinterfragens, Verzweifelns und Hoffens. So heißt es an einer Stelle: „Um sehen zu können, träumt man.“

Die KI und Ethik

„Ethik der künstlichen Intelligenz“ heißt der neue Gedichtband von Nikolaus Scheibner. 136 Gedichte sind in fünf Kapitel eingeteilt. Die Kapitel sind überschrieben mit „holz, stein, kupfer, eisen, plastik“. Diese Materialien werden für die Gedichte selbst jeweils oft zu Motiv- oder Ideenausgangspunkten und sind vielleicht auch als Hinweis ganz grundsätzlicher Natur zu lesen, denn Nikolaus Scheibners Poesie hat ein feines Sensorium für Materialien.

So auch für das Material der Sprache, das so ernst genommen wird, dass es in seiner Konkretheit in alle möglichen Richtungen Funken schlägt. Gleich unter dem 1. Kapitel „holz“ ist folgender Zweizeiler zu lesen: „die meisten bäume fühlen sich/mittlerweile zu recht gepflanzt“. Auch Redewendungen und bekannte Textzitate z.B. aus der Bibel sind verwendete Grundmaterialien für die poetische Arbeit, wenn es da heißt: „mein gott//warum hast du/dich auf mich/verlassen“. Diese sprühenden Sprach- und Bedeutungsspiele werden mit kritischer Energie und scharfsichtigem Augenzwinkern aufgeladen. Die Gedichte setzen dabei unterschiedlichste poetische Mittel ein, von Alliterationen und Endreimen bis hin zu lautmalerischen und lautverschiebenden Prozessen.

Und Achtung ‒ aufgepasst! „/wo die lyrik schwindet macht/angst sich breit/“.

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