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Neu-alter „Faust”-Kommentar

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Zum 125. Todestage Goethes wurde ein bisher unveröffentlichter Kommentar zum „Faust” herausgegeben, den der Brünner Augustinerchorherr und- langjährige Professor für Philosophie und Literatur an der Krakauer Universität, Franz Thomas Brat- ranek, 1842 niedergeschrieben hptte. Nur in einem einzigen Exemplar ist dieses Manuskript erhalten und wurde mit viel Sorgfalt von Professor V. O. Ludwig, Augustinerchorherr von Klosterneuburg-Wien, für die weitere Goethe-Forschung zugänglich gemacht. — Diese eigenartigen „Erläuterungen zu Goethes Faust” kreisen um den Begriff der „Innigkeit”! idealistisch-philosophische Methode versucht, „den Kern der Individualität”, „die innerliche Abgeschlossenheit und Eigentümlichkeit, zu welcher sich die mannigfachen Faktoren des Seelenlebens in der Gefühlsweise des einzelnen kondensieren”, zu reinigen. Solche Reinheit scheint in den wechselnden Schicksalen, die Goethe im „Faust” beschrieb und verdichtete, hinlänglich auf: Faust ist Begriff des Menschen, Fausts Leben ist der Typ menschlichen Werdens zu sich selbst. „Die Aufgabe, welche sich Goethe im Faust stellt: den einzelnen durch die Verwirklichung seiner Innigkeit mit seinem allgemeinen WeSen auszugleichen oder in tieferer Weise den Menschen durch die Ausführung des wahrhaft Menschlichen zum Göttlichen zu führen” — diese Aufgabe sieht der Kommentator im „Sieg des Geistes über die Natürlichkeit”. Ansatz und Methode sind idealistisch; Hegel und Fichte geben das Rüstzeug zu einer originellen, nur selten gezwungenen Interpretation. Wer solchen Versuch gelten läßt, wird aus diesem Buche manche Früchte lesen: der idealistische „Raster” über Goethes „Faust” ist nicht die ungeeignetste Art, dieses Werk einheitlich zu überschauen. — Die Liebe ist das Wiederfinden der Innigkeit im menschlichen Inneren. Dorthin muß Mephisto (Fausts persongewordene Natürlichkeit- Aeußerlichkeit-Endlichkeit) seinen Vertragspartner bringen. Der erste Teil des Dramas muß Faust die eigene egoistische Endlichkeit und Noch-Ungeistigkeit zum Bewußtsein bringen, das heißt seine ganze Verstricktheit in die Natur. Durch Auerbachs Keller, Hexenküche? Walpurgisnacht auf dem Brocken und die Liebe zu Gretchen wandert Faust auf der Suche nach seiner Innerlichkeit. In der Liebe zu Gretchen, so tragisch-schuldhaft sie endet, erwacht erstmals und unvollkommen das Geistige. Im zweiten Teil des Dramas sieht Bratranek die Entwicklung, wie Faust aus seinem Egoismus herauskommt: vom Schönheitsideal zur idealen Kunstgestalt, zur Wirklichkeit des Schönen, zur Vorbereitung auf die Freiheit, und endlich Faust im Reiche der Freiheit. Diese Stadien sind in den 5 Akten des zweiten Teiles enthalten. Das Verschwindenmachen Mephistos, des eigenen subjektiven Egoismus, läßt die Liebe erwachen: die Liebe zu Gretchen brachte für Faust die Innigkeit im Leben: in der Liebe zu Helena fand Faust seine Innigkeit in der Kunst: da in der Kunst noch eine „sinnliche natürliche Beigabe” eingemischt ist, muß diese in die Freiheit des Geistes übergeführt werden, zur Innigkeit, die sich im Allgemeinmenschlichen betätigt. „Die Tat also, die Wirklichkeit der Freiheit und der Liebe war es, welche ihn dem Endlichen, Egoistischen entrückte und seine Innigkeit, sein Unsterbliches in den Himmel des ewigen Geistes erhob.” So erblindet Faust am Ende seines Lebens für die Endlichkeit und das Unendliche des Geistes erhebt ihn unter der Gestalt des Ewig-Weiblichen in den Himmel. Die Innigkeit der Liebe hat gesiegt.

Unserer Zeit und Gegenwartsphilosophie liegt eine derartige Kommentierung des Faust fern. Die idealistische Konstruktion des Werkes hat nur literaturhistorische Bedeutung und der Goethe-Forscher wird die Herausgabe dieses seltsamen Kommentarwerkes sehr begrüßen. — Der Nicht-Fachmann findet seine Freude an dem immer modernen Begriff det „Innigkeit”, der sich durch diese Seiten verfolgen läßt. Anthropologische Weisheiten und in großartigem Stile vorgetragene ästhetische Konzeptionen sind für die Menschenkunde und die Aesthetik von Bedeutung.

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