Goethes Suche nach der eigenen Religion

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Johann Wolfgang von Goethe wurde gleichermaßen für wie gegen das Christentum vereinnahmt. Tatsächlich weist seine Religiosität überraschend moderne Züge auf.

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Johann Wolfgang von Goethe wurde gleichermaßen für wie gegen das Christentum vereinnahmt. Tatsächlich weist seine Religiosität überraschend moderne Züge auf.

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Die Gretchenfrage "Wie hältst du's mit der Religion?" hätte kaum jemand schwerer beantworten können als der Faust-Dichter Goethe. Zweifellos hat sein Werk eine religiöse Dimension; daß über ihre Deutung viel gestritten wurde, liegt nicht nur an den unterschiedlichen Interessen der Interpreten, sondern vor allem an jenen Widersprüchen, die Goethe so interessant machen.

In jungen Jahren haben ihn religiöse Fragen intensiv beschäftigt. In einer Krisensituation nach dem Studium in Leipzig und einer schweren Erkrankung im Winter 1768/69 schrieb er seinem Freund Ernst Theodor Langer über seine Hinwendung zum Christentum: "Mich hat der Heiland endlich erhascht, ich lief ihm zu lang und zu geschwind, da kriegt er mich bey den Haaren." Aber schon im selben Brief heißt es: "Doch Sorgen! Sorgen! Immer Schwäche im Glauben." In dieser Zeit hatte Goethe auch Kontakte zu den Frankfurter Pietisten und dem Fräulein von Klettenberg, dem biographischen Modell für die "Bekenntnisse einer schönen Seele" im "Wilhelm Meister".

Bald darauf muß Goethe eine Wende durchgemacht haben. In seiner nicht erhaltenen Straßburger Dissertation 1771 vertrat er eine aufklärerische Religionskritik. Seine Sicht Jesu kommt in einem Brief an Johann Caspar Lavater zum Ausdruck: "Bei dem Wunsch und der Begierde, in einem Individuo alles zu genießen, und bei der Unmöglichkeit, daß dir ein Individuum genugthun kann, ist es herrlich, daß aus alten Zeiten uns ein Bild übrig blieb, in das du dein Alles übertragen, und in ihm dich bespiegelnd dich selbst anbeten kannst." In einem Brief an Herder bezeichnete sich Goethe als "ein Heide", an anderer Stelle gebrauchte er die paradoxe Formulierung: "Ich halte mich fester und fester an die Gottesverehrung der Atheisten."

Religiöser Skeptiker Jedenfalls blieb Goethe in religiösen Angelegenheiten ein Skeptiker. Im Alter schrieb er: "Hinter jedem steckt die höhere Idee; das ist mein Gott, das ist der Gott, den wir alle ewig suchen und zu erschauen hoffen, aber wir können ihn nur ahnen, nicht schauen." Er sah zwar in Natur und Leben "Tempel" und "Gestalten" Gottes, aber auch das Etikett "Pantheismus" paßt für Goethe nicht wirklich, weil er keine Möglichkeit einer unmittelbaren Erkenntnis des Göttlichen sah.

Jede vorgegebene Dogmatisierung lehnte Goethe ab, er wollte seinen eigenen Weg finden. Später schrieb er darüber: "Ich studirte fleißig die verschiedenen Meinungen, und da ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden könne, und dies that ich mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah."

In hohem Alter stieß Goethe bei der Lektüre auf eine Sekte des vierten Jahrhunderts, die Hypsistarier; sie faszinierten ihn, weil sie "zwischen Heiden, Juden und Christen geklemmt, sich erklärten, das Beste, Vollkommenste, was zu ihrer Kenntniß käme, zu schätzen, zu bewundern, zu verehren und, insofern es also mit der Gottheit im nahen Verhältniß stehen müsse, anzubeten. Da ward mir auf einmal aus einem dunklen Zeitalter her ein frohes Licht, denn ich fühlte, daß ich Zeitlebens getrachtet hatte, mich zum Hypsistarier zu qualificiren."

Gebastelte Religion In Goethes Suche nach einer eigenen Religion tritt ein Zug hervor, der heute zum Alltag vieler Menschen geworden ist; Religionssoziologen sprechen von "Patchwork-Religion" oder "Bastel-Religion"und sehen darin ein typisches Zeichen der Gegenwart in den Industrieländern westlicher Prägung: die Auswahl aus verschiedenen religiösen Überlieferungen - nach eigenem Geschmack oder eigener Verantwortung, bewußt und oft auch recht beliebig.

Zweifellos hatte Goethe einen Sinn für das Göttliche. Das Verhältnis des Menschen dazu hat er in seinen grandiosen Jugendhymnen gestaltet: Die pantheistische Sehnsucht nach Einheit und Verschmelzung im "Ganymed", die religionskritische Revolte im "Prometheus" und wenig später den bleibenden Abstand zwischen dem Menschen und dem Göttlichen in "Grenzen der Menschheit".

Daß ich erkenne was die Welt / im Innersten zusammenhält ... - das Streben Fausts ist auch Goethes urreligiöse Fragestellung. Faust wendet sich, weil ihm dies nicht gelingt, dem Okkulten zu - eine Reaktion, die gerade heute Konjunktur hat und gar nicht so verschieden ist von der Goethes, wie seine Faszination für die Astrologie zeigt, die er im berühmten Anfang von "Dichtung und Wahrheit" nur halbherzig ironisiert. Goethes lebenslange Beschäftigung mit der Farbenlehre steht in einem religiösen Zusammenhang; er führte einen erbitterten Kampf gegen Newtons Entdeckung, daß das weiße Licht aus den Spektralfarben zusammengesetzt ist. Denn das Licht war für ihn in der Tradition der Naturmystik ein Urphänomen, ein unteilbares Ganzes. Es sah darin eine Brücke zum "geheimnisvollen Urgrund der Dinge", die nicht zerstört werden dürfe.

Zeit seines Lebens hatte Goethe einen Bezug zur Mystik: Im Gegensatz zu Rationalismus, Liberalismus und zu den Junghegelianern, für die "mystisch" ein Schimpfwort für modernes Dunkelmännertum war, meint Goethe mit "mystisch" einen Sinn für das "offenbare Geheimnis" der Welt und des Lebens. In einem der Gedichte des West-östlichen Divans (1819/27) spricht Goethe den persischen Dichter Hafis an: Du aber bist mystisch reinWeil sie dich nicht verstehn,Der du, ohne fromm zu seyn, selig bist!Das wollen sie dir nicht zugestehn.

Die Mittel, die den Menschen dem Licht und der Gottheit öffnen, sind - bei Goethe wie bei Hafis - der Wein, die Liebe und die Poesie; in seiner Autobiographie nennt Goethe die Poesie ein "weltliches Evangelium". "Das Verlangen nach reellen Genüssen" war es, was Heinrich Heine am West-Östlichen Divan so faszinierte und Goethes Zeitgenossen aufgeregt tadelten. Diese Welt- und Lebenszugewandtheit Goethes wurde nicht selten als Heidentum angeprangert. Im hohen Alter hat er darauf ironisch geantwortet: "Ich heidnisch? Nun, ich habe doch Gretchen hinrichten und Ottilien verhungern lassen, ist denn das den Leuten nicht christlich genug? Was wollen sie noch Christlicheres?"

Ablehnung des Kreuzes Goethe ist ebenso entschieden für das Christentum vereinnahmt worden wie ihm andrerseits jede Christlichkeit rigoros abgesprochen wurde. Goethes eigene Einstellung zum Christentum hat viele Facetten. Die Bibel kannte er jedenfalls genau, Zitate und Anspielungen durchziehen sein ganzes Werk. Was Goethe am Christentum massiv störte, bringt eines der Venezianischen Epigramme aus dem Jahr 1790 auf den Punkt: Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen DingeDuld ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut.Wenige jedoch sind mir wie Gift und Schlange zuwiderViere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und .

Und Jahrzehnte später schrieb er an seinen Freund, den Komponisten Karl Friedrich Zelter: "das leidige Marterholz, das Widerwärtigste unter der Sonne, sollte kein vernünftiger Mensch auszugraben und aufzupflanzen bemüht seyn." Mit diesen schroffen Formulierungen will Goethe mit Blick auf die Antike Diesseitigkeit und Lebenslust gegen den christlichen Leidenskult ins Recht setzen. Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche sind ihm darin gefolgt. Anstatt mit großer Emphase das Kreuz als abendländisches Kulturgut zu verteidigen, sollte man den späten Heine lesen, der sich von seiner Identifikationsfigur, dem "Heiden" Goethe, gerade deswegen lossagte, weil diese Christentumskritik als Lebenskonzept nicht mehr ausreichte; Heine bezog sich auf Hiob, als ihn die schwere Erkrankung in der "Matratzengruft" festhielt.

Daß man bei Goethe Passagen finden kann, wo er mit Sympathie die ästhetische Schönheit der Sakramente beschreibt, darf nicht dazu verleiten, ihm Sympathien für den Katholizismus zu unterschieben. Nicht nur charakterisierte er auf der Italienreise das Auftreten des Papstes und die lateinische Messe als "Pfaffen Mummerey" und "Hockuspockus"; schwerer wiegt der Bruch mit Friedrich Schlegel wegen dessen Übertritt zum Katholizismus und die strikte Ablehnung des katholischen Eucharistieverständnisses.

Heute: Alltagsreligion Goethe, der durch sein Selbstverständnis wie durch seine Nachwirkung an der Bildung des deutschen "Genie"-Konzeptes ganz wesentlich beteiligt war, setzte auf das Individuum, gerade auch gegen das naturwissenschaftlich geprägte und fortschrittsgläubige 19. Jahrhundert. Dazu gehört auch der Glaube an ein individuelles Fortleben nach dem Tod. Daß sie mit der Hoffnung auf den Fortbestand des eigenen Werkes verkoppelt ist und daß Goethes Geistesaristokratismus sie nicht jedem Menschen zugestehen wollte, zeigt die Grenzen seiner Auffassung des Individuums.

In der heutigen Gesellschaft, die sozusagen massenhaft individuell sein will, ist Goethes Religiosität im Alltag vieler Menschen angekommen. Seine Formulierungen aber sind unverwechselbar und nicht auf einen Nenner zu bringen. Das macht ihn noch immer lesenswert, gerade was seine Religion betrifft.

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