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„GUTE NACHT, HERR VON GOETHE!”

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Maisteig, ein winziges Dörfchen, 20 Kilometer nördlich von München, an der Autostraße Ingolstadt—Berlin, besitzt eine einzigartige, mit dem Namen Goethe verknüpfte Kuriosität. Auf der Vorderfront eines uralten Einkehrhauses ist eine Bronzeplakette eingelassen, auf der zu lesen steht: „In diesem Haus übernachtete Goethe am 5. September 1786.” Ein künstlerisches Relief zeigt den Dichter, wie er die Treppe emporsteigt, begleitet von einem dienstbaren Mädchen, das ihm, die leuchtende Kerze in der Hand, den Weg weist. Darunter stehen die Worte: „Gute Nacht, Herr von Goethe!” Diese Erinnerungstafel wurde 1932, hundert Jahre nach Goethes Tod, auf Veranlassung eines Herrn von Haniel, angebracht, der damals Bayrischer Reichsgesandter in Berlin war — das gab es noch! —, Besitzer des in unmittelbarer Nähe liegenden Schlosses Haimhausen, Eigentümer einer großen Brauerei, die ein vorzügliches Bier erzeugte, und auch des erwähnten alten Einkehrhauses, das er in Pacht gegeben hatte.

Goethes Tagebücher der Italienischen Reise, in denen die Abfahrts- und Ankunftszeiten in allen Poststationen und die Anzahl der zurückgelegten Meilen gewissenhaft vermerkt sind, verzeichnen freilich keinen Ort namens Maisteig. Als letzte Station vor München ist Unterbrück angeführt. Allerdings ist dem Dichter ein Schreib- oder Datumsirrtum unterlaufen, auf den die sonst so eifrigen Philologen nicht aufmerksam gemacht haben. Unter dem Datum des 4. September heißt es nämlich dort: „Regenspurg angekommen um 10, abgefahren um 12 einhalb Mittag.” An einer anderen Stelle der Eintragungen aber schreibt Goethe (Ausgabe, Verlag Julius Bard, 1907) ganz deutlich und jeden Zweifel ausschließend: „Den 5ten halb 1 Mittag von Regensburg.” (Der Dichter schreibt übrigens das erstemal Regensburg mit p, das zweitemal mit b.) Er blieb über Nacht in der Stadt, deren Sehenswürdigkeiten er in Augenschein nahm. Am Fenster eines Wirtshauses fand er den nachstehenden Vers, den er ins Tagebuch eintrug:

Comme les Peches et les melons Sont pour bouche d’un baron, ainsi les verges et les batons Sont pour les fous, dit Salomon.

Bis nach München nennt Goethe die folgenden Orte: Saal, Neustadt, Geisenfeid, Pfaffenhofen und das bereits erwähnte Unterbrück. Bekannt ist, daß Goethe — ich zitiere den Herausgeber dieser Tagebuchausgabe, Julius Vogel — über dem Reise journal mit begreiflicher Sorge vor Indiskretionen, die ihn bei Lebzeiten ärgerlich berührt hätten, gewacht hat. Er spricht sich hierüber, nach seiner Rückkehr aus Italien, nachdem er sich die Urschrift des Tagebuches von der Frau von Stein, für die es bestimmt gewesen, hatte zurückgeben lassen, offen in einem Briefe an Herder aus:

„Meine Absicht war, das Reisejournal ins Feuer zu werfen … So was sieht immer noch einer und wieder einer, es wird noch einmal abgeschrieben, und endlich habe ich den Verdruß, diese Pudenda irgendwo gedruckt zu sehen. Denn es ist im Grunde sehr dummes Zeug, das mich anstinkt… Es ist nicht Knauserei, sondern redliche Scham, daß ich die Blätter nicht hergeben mag.”

Goethe hielt, wie man sieht, selbst nicht viel von diesem Tagebuch, da, nach anderen, eigenen Worten, seine ersten Eindrücke „immer ein Gemisch von Wahrheit und Lüge im hohen Grade” seien. Wie immer aber es sich verhalten haben mag — daß Goethe in Maisteig übernachtet haben sollte, ist eine Erfindung, und warum jenes Einkehrhaus in den Ruf einer Goethe-Reliquie gekommen ist, das ist eine sehr komische und verwickelte Geschichte, die hier zum erstenmal nach authentischen Angaben erzählt werden soll. sei, verloren. Er hatte eine zahlreiche Familie, eine Frau und sieben Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren, die anschaulich die drückende Armut demonstrierten; sie waren bloßfüßig und nur dürftig gekleidet. Auch das ganze Anwesen sprach von Not und Sorgen. Das große Haus war recht verfallen, obwohl die ganze Bauart, die zweistöckige, behäbige Anlage, die breiten Fenster, das hohe Dach, die geräumige Einfahrt und der Steinschmuck der Gesimse noch immer erkennen ließen, daß es einst bessere Tage gesehen hatte und daß es ein gesuchtes Gasthaus gewesen sein mußte, wo man gut aß und trank.

Es kam zuerst zu einem geheimnisvollen und komischen Intermezzo, als der Reisende, der das „Tagebuch der Italienischen Reise” in der Rocktasche hatte, sich fragte, ob wohl Goethes Augen auf diesem Hause geruht haben mochten. Er stellte fest, daß die Postkutsche mit dem Dichter in tiefer Nacht vorbeigefahren war, unterließ es aber nicht, den Wirt zu fragen: „War nicht Goethe hier?”

Der Wirt antwortete: „Gestern war er hier. Aber er kommt jetzt nur selten.”

Der Reisende erschrak ein wenig und bemerkte: „Den Dichter Goethe meine ich!” ,

„Ja, ja, der Dichter!” sagte der Wirt.

Erst umständlich und auf Umwegen stellte sich heraus, daß der Wirt einen Mann im Sinne hatte, der tatsächlich den Namen Goethe trug. Er war ein Nachkomme des Pomologen Rudolf Konstantin Goethe. Teis sont les accidents de la vie. Von Weimar hatte der Wirt nie etwas gehört. Er klagte, daß die Autos aus Berlin so rasch vorüberführen, denn München wäre schon in Sicht, und niemand mache kurz vor dem Endziele der Reise halt. Außerdem sei Maisteig ein kleines Loch, freilich inmitten einer lieblichen Umgebung.

Der Gast beschloß darauf, das Innere des Hauses in Augenschein zu nehmen. Er fand darin eine altertümliche, von der Zeit gebräunte, riesige Wirtsstube, eine Küche, wie im „Cyrano” mit einem gewaltigen Herde, und im oberen Ge- schoße eine Reihe von Schlafstuben mit Bettlagen, die einst von Baldachinen gekrönt gewesen sein mußten, denn einige von den gedrechselten, feinen Säulchen waren noch vorhanden. Als er in den Garten zurückkam, sah er die sieben armen und blassen Wirtskinder, die die Untersuchung neugierig abwarteten, als könnte von ihr Hilfe kommen. „Dem Wirte kann geholfen werden”, sagte er, die letzten Worte des Räubers Moor variierend.

Dem Reichsgesandten von Haniel war es recht, als bald darauf in den Münchner Zeitungen ein Artikel erschien, in welchen auf die Möglichkeit hingewiesen wurde, daß das Wirtshaus in Maisteig am 5. September 1786 Goethe als Gast beherbergt habe. Es wurde gleißnerisch auf die Ungenauigkeit der Regensburger Eintragung und auf viele andere Umstände hingedeutet. Auch wurde ausgerechnet, daß Goethe siebzehn und eine halbe Stunde in der Postkutsche hatte verbringen müssen. Stärker als alle diese Argumente erwiesen sich aber verständlicherweise die literarischen Interessen der Brauerei, die mit einem Aufschwung des Einkehrhauses in Maisteig rechnete.

Der Protest verschiedener Goethe-Sachverständiger und Goethe-Vereine, denen der eigentliche Zweck der frommen Lüge verborgen blieb, kam zu spät. Die Bronzeplakette wurde rasch befestigt, ein Spruchband quer über die Straße gezogen, und wenige Monate später besaßen die sieben Kinder des Wirtes Schuhe und ordentliche Kleider, im Garten saßen Gäste, und vor dem Tore hielten die Autos aus Berlin.

Und wenn die Plakette unterdessen nicht heruntergefallen ist, hängt sie noch heute auf dem alten Haus in Maisteig.

Damit ist die Geschichte zu Ende. Die Authentizität beruht darauf, daß der damalige Reisende der Schreiber dieser Zeilen ist. Um die ganze Wahrheit zu sagen, ist da noch ein Punkt, der der Aufklärung bedarf. Es ist eine alte Erfahrung, daß philanthropische Absichten sich am besten erfüllen, wenn sie mit einer gewissen Eigensucht gepaart sind. Ich war damals in Maisteig nicht allein. Die Besichtigung des oberen Geschosses des Hauses war eine willkommene Gelegenheit, einen hübschen Mund zu küssen. Um ganz aufrichtig zu sein: Es war das treibende Motiv, das solche weittragende Folgen hatte. Goethe hätte den Streich wahrscheinlich verziehen. Die Goetheaner niemals.

Copyright Tanja Tschuppik

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