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Scheu vor dem Zweiten Faust

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Als 1917 die Salzburger Festspielhausgemeinde als Keimzelle der heutigen Festspiele gegründet wurde, verfaßte Hugo von Hofmannsthal einen Prospekt, der werbend in die Welt hinausging. Darin fragte er als Vertreter des Publikums: „Der ,Faust’ ist ein schweres Werk, eine Speise für die Gebildeten, wa6 wollt ihr damit?“ Als Dichter antwortete er darauf: „Das ist ein Irrtum, der .Faust’ ist das Schauspiel aller Schauspiele, zusammengesetzt aus den theatralischen Elementen vieler Jahrhunderte und reich genug an Sinnfälligem, Buntem und Bewegtem, um das naivste Publikum ebenso zu fesseln wie den Höchstgebildeten.“ Daß diese Worte nicht allein dem ersten „Faust“-Teil, sondern gleichzeitig dem zweiten galten, hat Hofmannsthal in diesem Prospekt ebenfalls entschieden ausgesprochen. Es war daher naheliegend, dem Salzburger Festspielkomitee bereits während der letzten Jahre den Vorschlag zu machen, 1949 den zweiten Teil des „Faust“ als die Goethe-Festspielaufführung auf das Programm zu setzen. Aber man entschied sich für „Clavigo“ und „Iphigenie“, die beide einem internationalen Festspielpublikum viel ferner liegen als eben der zweite „Faust“- Teil, der nicht nur dazu angetan erscheint, „das naivste Publikum ebenso zu fesseln wie den Höchstgebildeten“, sondern, den schönen und richtigen Gedanken Hofmannsthals erweiternd, auch das ausländische Publikum, denn diese Menschheitstragödie ist, mehr noch als der erste Teil der Dichtung, „reich genug an Sinnfälligem, Buntem und Bewegtem“, wird aber immer wieder mit einer durch nichts zu rechtfertigenden Scheu und dem Bemerken, daß er eben unverständlich sei im wesentlichen, ängstlich beiseite geschoben.

Was nun sind die scheinbaren Gründe für diese unbegreifliche Ablehnung? Eine ganze Bibliothek von wissenschaftlichen Kommentaren hat das herrliche Werk zugedeckt und erdrückt, so daß man sich nicht mehr an diese so beschwerte Dichtung herantraute, ja, daß man nicht auf einer geraden Straße zu ihr Zugang zu fipden suchte, sondern über wissenschaftliche Gebirge, die die Sicht verstellten und verrammelten, die den Dichter von seiner Dichtung so weit entfernten, daß er selbst, lebte er heute noch, erdrückt von wissenschaftlicher Besserwissern und Geheimnisgetue, nicht mehr zu seinem eigenen Wollen und Denken gefunden hättje! Und wie klar, wie leicht begreifbar in allem, was er in seinem Werk sagt, ist dieses Wollen, einmal- entkleidet vom Ballast der Kommentierenden! Wie herrlich und heiter, groß, tief und über allem anderen menschlich-allgemein, heutig genau so wie zukünftig, nicht rostend, nicht alternd, modelos, zeitlos, ohne Schranken.

Wie so oft in Sachen Goethes hat 1941, mitten im Vernichtungstaumel des zweiten Weltkrieges, der Inselverlag zu Leipzig die klärende Tat zur Regtung des „Faust II“ getan: er hat seinen als Insel- „Faust“ berühmten Dünndruckband er- erweitert, alles über den „Faust“- von seiten des Dichters Vorhandene chronologisch vereinigt, ergänzt, historisch aufgeliedert und an den Schluß kurze, klare Wortdeutungen gesetzt, die vor allem den mythologischen Hintergrund der Dichtung durchleuchten. Hier erklärt also lediglich Goethe Goethe, und man muß sagen, daß er sich ohne irgendwelche Umschweife glänzend und nirgends verwirrend erklärt. Der reine Sinn des großen Mensdiheitsdramas gewinnt kristallhafte Formen, leuchtet aus sich selbst, verlockt zur Lektüre genau so wie zur Aufführung, vor welcher alle aus den zuerst geschilderten Gründen geistiger Distanzierung vom Werk selbst flüchteten, schon vielleicht im Lauf der Jahrzehnte den einen oder anderen Versuch wagten, kürzten und herumprobierten, ohne den dramatischen Kern oder die dramatische Linie unangetastet zu belassen. Wohl braucht es eine genaue Kenntnis der Materie, wie sie der Dichter geschaffen, um zu raffen und das dem Theater vornehmlich Zugedachte herauszuschälen. Denn es ist selbstverständlich, daß dos riesige Werk sonst nicht an einem Abend darzustellen wäre. Diese Raffungen und Schnitte können aber getan werden, ohne daß Goethes großer Atem geschmälert wird. Gründgens hat da im Berliner Stadtheater 1941 vermocht. Er hat, selbst die Bühnenfassung gestaltend, selbst Regie führend und den Mephisto spielend, den Beweis erbracht, wie herrlich befeuernd die dramatischen Impulse auch von der Tragödie zweiter Teil auf das Publikum einzuwirken vermögen. Da war nichts unverständlich an dieser Aufführung, nichts verwirrend, zeitfern oder gar langweilig. Da war alles faszinierend vom ersten Augenblick an, und man fühlte sich als Zuschauer in jedem Moment selbst angesprochen.

Wie das auch die Paralipomena und Parerga seiner „Faust“-Dichtung zeigen,diese Entwürfe, Versuche, Bruchstücke, diese Ansätze zu Änderungen oder Erweiterungen, hat Goethe bekannt, daß sein Werk, genau wie das menschliche Leben, ich aus Bruchstücken zusammensetzt, daß es ein Ganzes zu sein anstrebt, aber, irdisch bemessen, dieses Bestreben nur zum Teil zu erfüllen vermag. Er hat das auch in dem „Abkündigung“ betitelten, nach Vollendung des Ganzen geschriebenen Gedichts, offen ausgesprochen:

Des Menschen Leben ist ein ähnliches Gedicht: Es hat wohl einen Anfang, hat ein Ende, Allein ein Ganzes ist es nicht.

Daß Goethe daran gedacht hat, den zweiten Teil seines „Faust“ sogar als Oper komponieren zu lassen und als Komponisten sich dabei allein Mozart vorstellte („Zauberflöten“-Bereich), bezieht ihn inniger in unsere österreichische Sphäre ein. Wichtig bleibt es jedenfalls neben allem anderen, daß mehr und mehr Bühnen, besonders aber Salzburg, sich endlich dazu entschließen, den zweiten „Faust“ auf ihr Programm zu setzen, damit er im Sinne Hofmannsthals „das naivste Publikum ebenso feßle wie den Höchstgebildeten“.

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