Zeit(ungs)geschichte

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Selektive, später: vergessene Gerechtigkeit: Hellmut Butterweck stellt die NS-Strafprozesse 1945 bis 1955 anhand der Berichte in Wiener Tageszeitungen dar.

Tragen Zeitungsberichte zur historischen Forschung essenziell bei? Solche Frage beantwortet die Historikerzunft nicht eindeutig, insbesondere dort, wo genug aktenkundiges Material wie bei Gerichtsprozessen da ist. Winfried G. Garscha, im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Experte für die Nachkriegsjustiz, sieht dagegen Presseberichte als "unverzichtbare Quelle" an, weil sie auch Stimmungen wiedergeben, etwas, was aus Akten nie herauszulesen wäre.

Garscha äußerte dies bei der Präsentation von Hellmut Butterwecks "Verurteilt und begnadigt - Österreich und seine NS-Straftäter", das eine zeitgeschichtliche Lücke schließt: Der langjährige Furche-Redakteur Butterweck hat sich durch Wiener Tageszeitungen zwischen 1945 und 1955 durchgearbeitet, um deren Berichte zu den 840 Prozessen des Volksgerichts Wien auszuwerten. Daraus entstand ein Buch, ein Zeitdokument ersten Ranges, erschütternd und aufschlussreich zugleich.

Falsche Täter, echte Mörder

Ein Beispiel, wie der Autor via Zeitungen den Ereignissen auf die Spur kommt: Der jüdische Theaterdirektor Viktor Rueff war nach Frankreich geflohen, von der VichyRegierung aber an die Deutschen ausgeliefert worden und landete als Blockältester in einem Auschwitz-Zweiglager. Nach der Befreiung kehrte er nach Wien zurück und fand sich im November 1946 vor dem Volksgericht wieder, weil ihn ein Mithäftling beschuldigt hatte, andere Lagerinsassen misshandelt zu haben. Butterweck vergleicht die Berichte in der Wiener Zeitung und dem VP-Organ Volksblatt mit dem, was die Arbeiter-Zeitung dazu schrieb - und kommt zum Schluss, dass der Reporter der Arbeiter-Zeitung offenbar tatsächlich beim Prozess war und auch Fragwürdigkeiten der Beweisführung aufzeigen konnte, während die anderen beiden Blätter mehr oder weniger die Anklageschrift wiedergegeben hatten, was Butterweck zu dem Schluss veranlasst, deren Autoren wären - was durchaus üblich war - bloß bei der Urteilsverkündigung (drei Jahre für Rueff) zugegen gewesen.

Solche Erkenntnisse finden sich akribisch im Buch aufgelistet: eine in jeder Hinsicht erschöpfende Lektüre, die auch zeigt, wie vielschichtig die Problemlagen bei den Tätern, aber auch bei Richtern, Staatsanwälten, Zeugen waren. Denunzianten standen ebenso vor den Volksgerichten wie politische Verantwortliche und (Massen-)Mörder. Dabei gab es problematische Causen wie jenen Fall Rueff (an dem Butterweck die Seriosität der Beweiswürdigung anzweifelt) ebenso wie "klare Sachen", bei denen zusätzlich Unappetitliches ans Licht kommt: So argwöhnt Butterweck, wiederum gestützt auf Zeitungsberichte, dass die unüblich schnelle Hinrichtung des Massenmörders Anton Brunner ("Brunner II") am 24. Mai 1946 - 14 Tage nach der Urteilsverkündung - vor allem dem Zweck diente, Brunner als Zeugen, der auch andere NS-Schergen belasten könnte, auszuschalten.

"Verurteilt und begnadigt" ist aber auch deswegen ein wichtiges Buch, weil es der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Österreich nachspürt. Das Ergebnis, zu dem Hellmut Butterweck kommt, ist - trotz vieler Überraschungen in den einzelnen Fällen - nicht überraschend: In der allerersten Nachkriegszeit mühte sich die Justiz im Prinzip redlich, NS-Verbrechen zu ahnden - wenn es auch da Schwierigkeiten gab, etwa durch "formale" Tatbestände: So konnte es sein, dass der eine nur, weil er einen bestimmten NS-Parteirang hatte, verurteilt wurde, der andere, der tatsächlich ein Täter war, hingegen nicht. Ab dem Jahr 1949 sank aber die Zahl der Prozesse rapid, und die Begnadigungen nahmen ebenso rapid zu: Das Buhlen beider Großparteien um die "Ehemaligen" ließ, so das Fazit der exorbitanten Recherche-Leistung Butterwecks, die Untaten der Nazizeit mehr und mehr aus dem Blick verschwinden. Ende 1955, so die beschämende Bilanz, waren nur mehr neun Personen nach dem Verbots- bzw. Kriegsverbrechergesetz in Haft...

Von Stein bis zum Fall Gross

Jedes Jahr bis 1955 wird im Buch abgearbeitet: Vom Prozess gegen die Mörder der politischen Gefangenen in Stein, als die Rote Armee schon nah war (1946), über die "Mühlviertler Hasenjagd" (Skandalprozess: 1948) bis zum (Euthanasie-)Fall Gross (Prozess: 1950), der ja noch vor wenigen Jahren die Gerichte beschäftigte, reicht das grausige Panoptikum, das da anhand der Presseberichte ausgebreitet wird.

Man kann das Buch - weder emotional noch aufgrund der Fülle an Fällen - in einem Atemzug durchlesen. Aber man sollte es immer wieder zur Hand nehmen: Den Nachkriegsjahren auf diese Weise nachzugehen lohnt sich (ein Personen- und ein Sachregister wären zusätzlich hilfreich gewesen). Hellmut Butterweck und der Czernin Verlag haben Österreich hier einen - zu vermuten ist: weitgehend unbedankten - großen Dienst erwiesen.

Verurteilt und begnadigt Österreich und seine NS-Straftäter

Von Hellmut Butterweck. Czernin Verlag, Wien 2003. 368 S., brosch., e 29,-

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