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Die Frage nach dem Christkind

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Der Mann kam nach Hause, setzte sich an den Tisch und las die Zeitung. Die Frau strickte, der Junge hockte auf dem Boden und spielte mit einem kleinen Auto. Draußen war es dunkel, der Regen schlug gegen die Fensterscheiben, und alle fünf Minuten donnerte ein Stadtbahnzug vorüber. Drinnen war es warm, das Licht der Lampe strahlte angenehm gelb und weich. Auf dem Ofen stand ein Teekessel und summte.

Der Mann legte die Zeitung weg, betrachtete den Jungen eine Weile und fragte: „Hast du schon deinen Brief an das Christkind geschrieben?“

Der Junge hielt sein Auto fest und sah auf.

„Nein“, sagte er.

„Warum denn nicht?“

Ein Achselzucken, aber keine Antwort.

„Willst du nicht, daß dir das Christkind was bringt?“

Lange Pause. Dann senkte der Junge wieder den Blick, schob das Auto ein wenig hin und her, ohne es aus der Hand zu lassen. „Es gibt ja gar kein Christkind“, meinte er endlich.

Die Frau hörte auf zu stricken, der Mann beugte sich vor. „Es gibt gar keins? Woher weißt du denn das?“

„Der Krisch hat es mir gesagt.“

„So. Der Krisch.“

„Und die Fanny auch.“

„Die Fanny auch. Na, und glaubst du, daß die zwei recht haben?“

Der Junge schaute nicht auf, er klammerte sich an sein Auto und starrte auf den Boden.

„Ja“, flüsterte er.

„Und woher kommen denn die Spielsachen zu Weihnachten, wenn es kein Christkind gibt?“

„Die kaufen die Eltern.“

„Und warum tun die Eltern das?“

Nun hob der Junge den Kopf und sah den Vater verständnislos an. „Was?“ fragte er.

„Warum kaufen die Eltern den Kindern zu Weihnachten Spielsachen?“

Der Junge rührte sich nicht.

„Müssen sie denn was kaufen?“

Keine Antwort. Der Vater stand auf, setzte sich neben den Jungen auf den Boden und nahm das kleine Auto in die Hand. „Das ist vom vorigen Jahr. Das Christkind hat es dir gebracht. Und jetzt gibt es also kein Christkind. Der Krisch hat es gesagt. Und die Fanny hat es auch gesagt. Weißt du, wer das Christkind eigentlich ist?“

„Nein.“

„Weißt du, wie es heißt?“ „Christkind.“

„Nein. Du kennst doch die Geschichte, wie es geboren worden ist. Mit der Krippe und den Hirten und den drei Königen aus dem Morgenland?“

„Ja.“

„Und was später mit dem kleinen Kind geschehen ist?“ „Nein.“

„Hast du nie etwas von dem Mann auf dem Kreuz gehört? Jesus von Nazareth?“

„Das schon.“

„Das ist das Christkind. Der Jesus. Und er ist auch der Liebe

Gott. Das Christkind ist der Liebe Gott. Hast du das noch nicht gewußt?“ „Nein.“

Der Mann lächelte. „Du glaubst wahrscheinlich, daß der Liebe Gott auf einer Wolke sitzt und einen langen Bart hat. Nein, Söhnchen. Der Liebe Gott ist ein Kind. Aber er ist kein Mensch, er ist ein Geist, und Geister kann man nicht sehen. Das weißt du doch?“

„Geister kann man nicht sehen, nein.“

„Eben. Deswegen kann man auch das Christkind nicht sehen. Und das Christkind kann auch nichts einkaufen und nichts tragen, weil es ja keine Arme hat und nicht sprechen kann und unsichtbar ist. Und drum kann es auch der Krisch nicht sehen und die Fanny auch nicht. Und deswegen glauben sie, daß es kein Christkind gibt. Aber glaub mir: es gibt ein Christkind.“

Der Junge starrte und rührte sich nicht. Die Mutter begann wieder zu stricken. Ein Stadtbahnzug fuhr vorüber.

„Das Christkind ist der Liebe Gott und ist ein kleines Kind und hat die Kinder sehr gern, und es will, daß alle die Kinder gern haben. Und es spricht auch zu den Menschen, nur hört man es nicht laut, sondern in sich drinnen. Einmal im Jahr, zu seinem Geburtstag, da spricht es mit den Eltern und bittet sie, daß sie den Kindern was schenken sollen, weil es das ja selber nicht tun kann. Und die Eltern hören das Christkind und gehen hin und kaufen Spielsachen. Und dann schmücken sie den Baum und legen die Geschenke darunter und läuten mit einer Glocke. Aber schuld daran, daß die Kinder etwas kriegen, ist doch das Christkind. Auch wenn man es nicht sehen kann.“

„Aber wenn man es nicht sehen kann - “

„Man spürt es. Man spürt es immer, wenn man zu einem Menschen gut ist und ihn gern hat. Wenn man zu jemandem böse ist, dann weint das Christkind. Wenn du gut zu ihm bist, dann freut es sich, und das spürst du genau. Und fromm sein, heißt auch nichts anderes, als die Menschen lieb haben und ihnen Gutes tun. Denn wenn du sie lieb hast, dann machst du genau, was das Christkind will.“

„Und das Beten?“

„Beten tust du, wenn du mit dem Christkind sprichst. Das Vaterunser auswendig lernen, das kann man bald. Aber denk immer daran, daß der Liebe Gott ein Kind ist, mit dem du sprechen kannst, und das sich nicht so sehr freut, wenn man ihm jeden Tag nur dasselbe Verschen sagt. Rede jeden Tag mit ihm, erzähle ihm, was du den Tag über gemacht hast. Danke ihm, wenn der Tag schön war, und denke nach, ob du alles gut gemacht hast. Und versprich dem Christkind, daß du es immer besser machen wirst. Das ist gebetet. Und gut sein, damit sich das Christkind freut, das ist fromm.“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Und wenn ich den Brief schreibe? Das Christkind kann ihn doch nicht lesen.“

„Wir werden ihn lesen, und das Christkind liest mit uns. Also, setz dich hin und schreib deinen Zettel.“

Der Vater stand auf, der Junge lief aus dem Zimmer, um Papier und Bleistift zu holen.

„Heute fragt er nach dem Christkind“, sagte die Mutter. „In acht Jahren wird er nach Gott fragen.“

„Dann werde ich ihm dasselbe sagen.“

Er setzte sich wieder, griff nach einem Buch und begann zu lesen. Die Frau strickte, der Junge malte langsam seine Blockbuchstaben. Es war Abend und draußen regnete es, und die Stadtbahnzüge fuhren vorbei, und Weihnachten stand vor der Tür und ein neues Jahr. Und dahinter warteten viele andere Jahre, leichte Jahre und schwere Jahre, in denen es immer wieder Kinder geben würde, die eines Tages sagen: „Der Krisch hat es mir erklärt — es gibt gar kein Christkind.“

Und es wird immer schwierig sein, drauf eine Antwort zu geben, weil für die Menschen eben nur die Spielsachen sichtbar sind, nicht aber die Liebe.

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