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Selbsthaß?
Bruno Kreisky, der Vielseitige, zählt unbestritten zu den interessantesten Personen der letzten Jahrzehnte Österreichs. Den Radikalen ist er der Gesinnungsgenosse aus den dreißiger Jahren, den Begüterten der Industriellensohn, den Begabten der Intellektuelle, den Juden der Antisemit, den Antisemiten der Jude, den Liberalen, so- fern’s die gibt, Liberaler. Hätte Österreich noch Seegrenzen, wäre es findigen Marineuren Vorbehalten gewesen, unter Kreiskys Vorfahren auch einen Admiral zu entdecken.
Unter diesem rätselhaften Aspekt ist auch die vom holländischen Journalisten Martin van Amerongen skizzierte „unbewältigte Gegenwart” Kreiskys zu sehen. Der Autor fragt, was Kreisky wohl bewogen habe, Simon Wiesenthal zum „Volksfeind Nummer 1” zu erklären, weshalb Wiesenthal schließlich resignierte und warum die in der Vergangenheit ruhmreich antifaschistische SPÖ Kreiskys Wiesenthal-Hatz kritiklos hinnahm. Zahllose Punkte mögen durchaus einen klareren Blick hinter die Kulissen der Kreiskyschen Seele ermöglichen. Manchmal allerdings fällt der Autor, Kanzler Kreisky dem jüdischen Selbsthaß preisgebend, dem etwas verbohrt wirkenden Nazi-Haß holländischer Prägung in die Arme. Etwa, wenn der Autor einen Funktionär der SPÖ erklären läßt, er wäre durchaus bereit, bei Wahlversammlungen über die Verbrechen der Nazis zu sprechen, wenn die vergasten Juden wählen könnten. Oder, wenn er die Wahl Kreiskys zum Parteivorsitzenden der SPÖ im Jahre 1967 dem Umstand zuschreibt, daß für Kreisky am vehementesten jene Länder eintraten, „in denen der höchste Prozentsatz von Antisemiten zu finden ist”, nämlich Kärnten, Tirol, Salzburg und die Steiermark. Wäre Kreisky also nicht in erster Linie Antisemit und dann erst Sozialist oder Sozialdemokrat, und müßte Simon Wiesenthal nicht gar so viele Tränen zwischen den Zeüen vergießen, dann wäre das interessante Buch auch von dem Odium befreit, daß es den gänzlich unbefangenen Leser im unklaren läßt, ob nun die Bundeshymne die Nachfolge des Deutschlandliedes angetreten hat oder nicht.
KREISKY UND SEINE UNBEWÄL- TIGTE GEGENWART; von Martin van Amerongen, Verlag Styria, Graz- Wien-Köln, 1977, 141 Seiten, öS 118,-.
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