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Zuwenig Akademiker?

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„Venezuela braucht in den nächsten fünf Jahren mindestens 900.000 Spezialarbeiter, um seinen Entwicklungsplan erfüllen zu können“, erklärte der Präsident des „Nationalrates für Arbeitseinsatz“ Raul Sosa Rodrlguez. „Um die sensationellen Projekte für Atomenergie in Brasilien zu verwirklichen, müßten 100.000 Spezialisten ausgebildet werden“, liest man. Wer diese Ziffern hört, glaubt, in Lateinamerika bestehe ein fast unbegrenzter Bedarf an Akademikern. Aber gleichzeitig spricht man in Brasilien von Soziologen, die als Portiers arbeiten, und von Philosophen, die Wurst verkaufen. In Argentinien warnt man vor dem „Akademikerproletariat“. Ausgelernte Nationalökonomen beladen in uruguayischen Brauereien die Lastkraftwagen.

Viele Beobachter der lateinamerikanischen Szene führen die relative Unterentwicklung auf das niedrige Bildungsniveau zurück. Oft wird von dem einst armen Einwanderer gesprochen, der in seinem „Sohn, dem Herrn Doktor“ die Erfüllung aller Träume sieht und glaubt, nun sei dessen wirtschaftliche Zukunft aber auch die Zukunft des Landes gesichert.

Aber man irrt.

Am stärksten ist das Bedürfnis nach höherer Bildung in Brasilien, weil dort von ihr der wirtschaftliche Aufstieg abhängt. 1970 gab es in Brasilien 500.000 Universitätsstudenten, jetzt hat ihre Zahl eine Million überschritten.

In Argentinien, wo zur Zeit 537.008 Studenten inmatrikuliert sind, ist der Anteil von Hörern der exakten Wissenschaften mit 36 Prozent noch bedeutend höher als in anderen la-tein-amerikanischen Ländern.

Alle Beobachter sind sich darüber einig, daß die Verteilung der Studienfächer einer modernen Entwicklungspolitik widerspricht. Aber die „falsche Berufswahl“ hat ihre realen Gründe. Von 200 „akademischen Ag-rar-Wirtschaftlern“, einem in Argentinien neu geschaffenen Beruf, emigrierten 40 Prozent und von den im südbrasilianischen Staate Rio Grande do Sul ausgebüdeten Geologen 80 Prozent. Es ist paradox, aber Tatsache, daß Agronomen in Agrarländern wie Argentinien oder Uruguay schwer eine Stellung finden.

Die Fehlentwicklung in der Universitätsausbildung ist eine Quelle chronischer Unzufriedenheit und Unsicherheit unter der studentischen Jugend. Der neue argentinische Erziehungsminister Ricardo Bruera sieht in der daraus entstandenen „Sozial-Neu-rose“ eine der Hauptursachen für Subversionen. Er betreibt ein sehr umkämpftes neues Hochschulgesetz, um innerhalb der nächsten Jahre eine tiefgreifende Reform zu erreichen. Technische Mittel- und Hochschulen sollen in den Vordergrund rücken, der Universitätsflucht soll dadurch begegnet werden, daß „mittlere“ Titel schon nach drei Studienjahren verliehen werden können.

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