Stellen Sie sich vor, Sie gehen von der Arbeit nach Hause und Sie sehen ein kleines Kind hilflos auf Straße liegen. Was würden Sie tun? Ohne Zweifel würden Sie die Polizei rufen, auf die Beamten warten und dann weitergehen, beeindruckt durch das Erlebte. Die Situation ist so klar, dass gar kein moralisches Dilemma bestehen kann. Selbstverständlich würden alle dem Kind helfen. Die Moral (nach Kant "Was soll man tun?") ist derart eindeutig, dass es keine moralische Zweifel geben kann. Der Gipfel der Moral ist also, wenn sich keine moralische Frage mehr stellt. Nicht in dem Sinne, dass sie eliminiert würde, sondern im Sinne einer Automatisierung. Es gibt kein moralisches Dilemma. So ähnlich ist es mit den "Animal Spirits" in der Wirtschaft, von denen Keynes sprach. Diese "Geister" leiten uns, auch wenn wir bewusst gar nichts mit ihnen zu tun haben.
Aber zurück zum Kleinkind. Die Situation hat mehrere Aspekte. Vor allem zu nennen ist hier der Wunsch, einem hilflosen Kind zu helfen. Dieser Wunsch ist in unserer Gesellschaft so stark ausgeprägt, dass der, der hilft, im Moment der Hilfe keinerlei Risiko trägt. Es kann nichts passieren, außer dass jemand ein paar Cent für ein Telefonat mit der Polizei ausgibt. Moralisch zu handeln ist in dieser Situation also einfach. Man ruft an, den Rest erledigen die Institutionen und alle damit zusammenhängenden Probleme: Erziehung, Wohnmöglichkeit, Gesundheit. Mit dem Anruf endet also auch meine Verantwortung. Der Rest ist ein Automatismus. Genauso geschieht es in der Pflege unserer Eltern und Großeltern. Diese Bereiche sind derart automatisiert, dass man die Höhe der Altersversicherung diskutieren kann, nicht aber die Versicherung an sich. In diesem Sinn haben wir unsere Moral automatisiert - und externalisiert und in diesem Sinne ist auch die seelische Moral veräußerlicht.
Der Autor ist Professor für Ökonomie an der Karlsuniversität Prag
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