Rückflug ins Land der Friedhofsruhe

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Europa schickt immer mehr tschetschenische Flüchtlinge zurück, weil Russland offiziell als sicher gilt. Unter Familien in Österreich herrscht Angst. Jetzt schlagen Experten Alarm.

Im Plastiklicht wirkt Yachita Abdualev fast wie eine Puppe. Aufrecht sitzt sie im Krankenhausflur, die Hände im Schoß gefaltet, die dunklen Haare zu einem langen Zopf geflochten. Groß und schlank und sehr zerbrechlich. Gleich wird der Neurologe kommen und den Befund mit ihr besprechen. In der Nacht kam sie ins Spital, ihr Kopfweh war unerträglich. Solche Schmerzen hat sie in letzter Zeit öfters, erzählt Yachita. Auch das Schlafen fällt ihr schwer.

Yachita Abdulaev ist 30 Jahre alt, Mutter von zwei Söhnen, gelernte Krankenschwester. Vor sieben Jahren flüchtete sie mit ihrem Mann Ilias aus Tschetschenien. Sicher fühlt sie sich noch immer nicht. "Ich habe ständig Sorge, dass wir deportiert werden.“ Die FURCHE berichtete bereits im November von der drohenden Abschiebung der Familie Abdulaev. Nach einem negativen Asybescheid haben sie um humanitäres Bleiberecht angesucht. Seither ist ein halbes Jahr vergangen. Eine Entscheidung gibt es noch nicht.

Der Stress ist in den letzten Wochen größer geworden, und zwar nicht nur bei Familie Abdulaev. Vor drei Wochen schnitt sich in Villach ein Familienvater aus Tschetschenien vor den Augen der Fremdenpolizisten die Pulsadern auf. Letzte Woche holte die Fremdenpolizei eine tschetschenische Familie aus Klagenfurt ab. Siegfried Stupnig vom Kärntner Verein Aspis bekommt das hautnah mit: "Alle sind furchtbar verunsichert. Auch Menschen, die schon lange Asyl haben, fragen mich, ob sie als nächste deportiert werden.“ Seit zehn Jahren arbeitet Stupnig mit tschetschenischen Flüchtlingen. Die Frequenz, mit der Familien jetzt Probleme mit der Fremdenpolizei bekommen, findet er auffällig. Für ihn ist klar: "Es gibt einen Auftrag vom Innenministerium, der heißt ‚Ab nach Tschetschenien‘.“

Dort will man das nicht bestätigen. Jeder Fall werde einzeln geprüft, heißt es im Innenministerium, Tschetschenen werden nicht anders behandelt. Zahlen, die die eine oder andere Behauptung belegen könnten, gibt es allerdings nicht: Seit Jahresbeginn wurden insgesamt 468 Menschen abgeschoben - wie viele davon nach Tschetschenien, erfährt man nicht.

Küche, Esstisch, Sofa-Zimmer

"Eins, zwei, drei, vier,...“, Malik zählt bis zehn und gibt dem gelben Spielzeugauto einen Schubs. Es fährt gegen das Sofa, und Malik lacht. Die kleine Couch lässt sich ausziehen, hier schlafen Yachita und Ilias. Für den vierjähigen Malik und seinen älteren Bruder Armin legen die Eltern in der Nacht Matratzen auf den Boden. Seit vier Jahren wohnen die Abdulaevs in der Einzimmerwohnung eines befreundeten Arztes in Kirchdorf an der Krems. Es gibt eine kleine Küche mit Esstisch und das Sofa-Zimmer. Armin, der Siebenjährige, war die ganzen Weihnachtsferien lang traurig, dass die Schule und der Hort zu waren. Jetzt, wo das Wetter schöner ist, geht er viel Radfahren. Letztens bekam er einen Brief von einem Mädchen aus seiner Klasse. Seitdem möchte er sich die Haare mit Gel aufstellen, wie die anderen Buben.

Ilias, der Vater, ist zurückhaltender. Er geht nur selten vor die Tür. In Tschetschenien wurde er entführt, war tagelang verschwunden. Als er freikam, verließen er und seine Frau, damals mit Armin schwanger, das Land. "Er ist sehr nervös, kommt nicht zur Ruhe“, sagt Yachita. Tschetschenische Männer erzählen nicht viel von ihren Ängsten, sagt sie. Sie kann sie trotzdem spüren.

Die Psychotraumatologen Walter Renner und Hans Ottomeyer haben herausgefunden, dass 62 Prozent aller tschetschenischen Flüchtlinge posttraumatische Belastungsstörungen haben. "Flüchtlinge brauchen Sicherheit und Schutz, die Anerkennung und Verurteilung der Gewalt, die ihnen zugefügt wurde und eine neue Lebensperspektive“, sagt Verena Schlichtmeier. Sie leitet in Innsbruck das Zentrum für interkulturelle Psychotherapie der Diakonie. In Österreich, meint sie, werden diese Bedürfnisse nicht gedeckt. Ohne Perspektive lassen sich Traumasituationen noch schwieriger bewältigen. "Dazu gehört auch, sich selbst als aktiv und produktiv erleben zu dürfen“, sagt Schlichtmeier. Ilias Abdulaev kann das nicht. Seit sieben Jahren darf er als Asylwerber nicht arbeiten.

Ein Beweis, wie sicher das Land ist?

Nach Tschetschenien zu gehen, da sind sich Ilias und Yachita sicher, wäre für sie lebensgefährlich. Irgendwann möchten sie schon wieder zurück: "Aber erst, wenn es sicher ist.“ Für die europäischen Behörden ist es das bereits seit 2007. Seit Anfang 2011 gibt es außerdem ein bilaterales Abkommen zwischen Österreich und Russland, das technische Fragen der Abschiebung regelt. Zudem sind im Vorjahr 540 Personen freiwillig nach Russland zurückgekehrt. Für manche ein Beweis, wie sicher das Land ist - für andere genau das Gegenteil: "Tschetschenen verlassen ihr Land nicht leicht und leichtfertig“, weiß etwa die Journalistin und Russland-Kennerin Susanne Scholl: "Diejenigen, die heute in Österreich leben, sind dazu gezwungen, weil sie zu Hause in Lebensgefahr sind.“ Und zwar obwohl der Bürgerkrieg offiziell vorbei ist. "In Tschetschenien herrscht Friedhofsruhe“, sagt Heinz Patzelt, der Österreich-Chef von Amnesty International. Folter, politische Morde und Verschwindenlassen sind immer noch üblich. "Wenn man das Asylwesen irgendwie ernst nimmt, sind Rückschiebungen nach Tschetschenien undenkbar. Damit verletzt man das Flüchtlingsrecht.“

"Kadyrows Männer sind überall“

Über die Menschenrechtssituation dürfen auch die neuen Straßen und Krankenhäuser in der Hauptstadt Grosny nicht hinwegtäuschen. Eine FPÖ-Delegation zeigte sich im Februar davon so beeindruckt, dass sie am liebsten gleich den Asylstatus für Tschetschenen abschaffen wollte. "Bei Asyl geht es um individuelle Bedrohungen“, stellt der Innenministeriums-Sprecher richtig: "Dafür ist die Frage der Infrastruktur überhaupt nicht von Bedeutung.“ Die FPÖ regte außerdem an, dass Menschen aus Tschetschenien, die sich dort nicht sicher fühlen, in einem anderen Teil Russlands leben können. Hans-Georg Heinrich, emeritierter Professor an der Uni Wien und Russland-Experte, weiß Genaueres: "Bei einer Abschiebung wird man nach Moskau gebracht, aber Papiere bekommt man nur in Tschetschenien.“ Wer dort nicht hin kann, weil es zu gefährlich ist, wird so in die Illegalität geschickt.

Die Abdulaevs trauen sich nicht einmal nach Polen, wo sie zum ersten Mal EU-Boden betreten haben. "Die Männer von Kadyrow sind überall.“ Sollte ihr Bleiberechtsantrag abgelehnt werden, müssen sie Österreich verlassen. Ob sie dann nach Polen oder nach Russland oder über Polen nach Russland müssten, weiß Yachita nicht. Wenn sie daran denkt, wird ihr Kopfweh schlimmer.

Doch noch gibt es Hoffnung. Das Krankenhaus darf sie am späten Nachmittag verlassen. Sie kann nach Hause, in die Sofa-Zimmer-Wohnung, wo ihr Mann und ihre Buben schon warten. In der Nachmittagssonne wirkt Yachita Abdulaev fast wie eine Siegerin. Groß und schlank und sehr stark.

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