Im Islam gibt es den Grundsatz: „Wenn ein Muslim zwischen zwei Optionen zu entscheiden hat, die ihm beide offenstehen, dann soll er stets diejenige nehmen, die leichter ist.“ Dies haben die Gelehrten aus dem Koranvers 185 der 2. Sure abgeleitet: „Gott will für euch das Leichte und nicht das Schwere.“ Interessanterweise spricht dieser Vers zugleich das Fastengebot an. Der Grundsatz der Erleichterung wurde somit im Zusammenhang mit dem Fasten im Ramadan verkündet. Nun befindet sich der Ramadan weiterhin in Monaten, in denen die Sonne in vielen europäischen Ländern sehr spät untergeht, was manchmal heißt, dass Muslime bis zu 17 Stunden fasten müssen. Allerdings gibt es inzwischen mehrere Fatwas, auch die offizielle aus Kairo, die Muslimen erlauben, sich an der Zeit von Mekka zu orientieren, also nur bis 19 Uhr zu fasten. Ich kenne viele Freunde und Bekannte, die dennoch darauf beharren, die schwerere Option zu nehmen, obwohl sie am Ende des Tages sichtlich unter dem Fasten körperlich leiden. Sie argumentieren, je mehr sie leiden, desto lieber hätte es Gott. Aber was hat Gott von unserem Leiden? Im Fasten soll es nicht ums Leiden gehen, sondern um die Entfaltung von Spiritualität: sich von materiellen Werten zu entfernen, um in sich neue, vor allem spirituelle und ethische Werte zu entdecken und diese zu kultivieren. In der Praxis vieler wird allerdings gerade der Koran-Grundsatz nach der Erleichterung umgedreht, als würde sich Gott eher über die schwerere Option freuen. Im Vers 184 derselben Sure heißt es, wer nicht fasten kann, soll einen armen Menschen speisen. Der Ersatz für das Fasten ist eine soziale Handlung. Das Fasten ist nur dann vollzogen, wenn der Fastende durch diese Praxis zu einem verantwortungsvolleren sozialen Wesen geworden ist. Darauf kommt es an und nicht auf die Zahl der Stunden, in denen man fastet: Gott schaut nicht auf die Uhr, sondern in die Herzen und auf die Handlungen.
Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster
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