Übertrainierter Literat

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Michael Köhlmeiers neuer Erzählband zeigt: Sprachfluß und Duktus ergeben noch kein Leben.

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Michael Köhlmeiers neuer Erzählband zeigt: Sprachfluß und Duktus ergeben noch kein Leben.

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Athleten und Politiker können übertrainiert sein. Daß dieses Phänomen auch in der Literatur auftritt, zeigt Michael Köhlmeier in seinem neuen Erzählband "Der traurige Blick in die Weite". Was bei den beiden anderen Gruppen ein Zuviel an Kilometern in den Beinen und ein Zuviel an inhaltsloser Rede ist, das sind bei Köhlmeier die erzählten, vorgetragenen und faszinierend interpretierten Geschichten von den Griechen bis zu den Nibelungen. Für diesen Autor gibt es längst keine Grenzen mehr, und mit seinen Interpretationen wird er auch vor Jerusalem nicht haltmachen. Auch die Neue Welt wird ein Ziel sein in nicht allzu ferner Zukunft. Mit der Welt der Mythen im Hinterkopf wird auch der Alltag poetisch und ist es leicht, Geschichten in einem poetischen Duktus zu schreiben, doch der Duktus garantiert noch kein Leben. Und so bevölkern seltsam seelenlose Wesen die von Köhlmeier zusammengestellte Welt. Manche brechen aus diesem Korsett und kämpfen sich für kurze Augenblick frei, wie die gehbehinderte Mutter, die alle vier Jahre nach Lourdes fährt, oder die Großmutter, die alles daransetzt, die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zumindest in ihrem unmittelbaren Alltag wiederherzustellen, um so die Gegenwart nicht akzeptieren zu müssen. In diesen geglückten Momenten werden die Figuren zu exemplarischen Schildträgern für Ideen und Interpretationen, doch oft genügt ein Satz, eine Pointe, und die ganze Last der Geschichte drückt die Personen nieder.

Natürlich entwickeln diese literarischen Wesen soviel Kraft, daß sie nicht zu Platitüden werden. Doch wenn sich beim Lesen mehrmals die Frage nach dem Warum eines Weiterlesens stellt beziehungsweise die Richtung längst unverkennbar ist, in die die Interpretation laufen soll, dann wünscht sich der Rezensent einen weniger trainierten Literaten, der nicht langweilige Geschichten aufmotzt, indem er sie mit dem variierten Satz enden läßt: "In einer Bar in Salzburg ist dieser Geschichte erzählt worden". Und des Grübelns ist kein Ende, was dies mit dem vorher Erzählten zu tun habe.

Doch jene Texte, in denen nicht wildfremde Wesen, sondern die eigene Geschichte reflektiert wird, wie zum Beispiel in "Rosenkranz und Radio" über die Internatszeit des Autors, geben dann schlicht und einfach die Antwort auf die ungestellte Frage und entschädigen für jene Erzählungen, die sich wie Füllsel ausnehmen. Hier genügt ein Absatz, und wir sind mitten im Geschehen: "Als ich das Radio für mich entdeckte, kam das einer Rettung in höchster Not gleich. Ich litt an einem gefährlichen Mangel an Einsamkeit, der bisweilen hysterische Züge annahm. Ich war zehn Jahre alt und seit drei Monaten nicht eine Minute wirklich allein gewesen. Ich war im Internat." Auch hier meldet sich der Kritiker leise zu Wort: Warum müssen die Titel so bildungsbeflissen sein und noch dazu im Stabreim daherkommen, Rosenkranz und Radio? Doch immerhin, der Autor bringt Überraschendes zutage, zeigt er doch die Gemeinsamkeiten zwischen dem Kriminalhörspiel Dickie Dick Dickens und dem Rosenkranz. Beide beginnen mit einem Paukenschlag. Die Botschaft war ähnlich: "Herhören, etwas Außergewöhnliches ist geschehen!

Der traurige Blick in die Weite. Erzählungen von Michael Köhlmeier. Deuticke Verlag, Wien 1999. 207 Seiten, geb., öS 291,- / E 21,14

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