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Ströme fließen zurück

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Um den Aralsee und den Kaspischen See erstreckt sich ein großes Wüstengebiet, die sogenannte Aral-Kaspi6che Niederung.

Sie wird im Südwesten von den Wellen des Kaspischen Sees bespült und von den Ausläufern des nördlichen Kaukasus begrenzt, im Süden bilden Mittelasien und Kasakstan, im Norden die Ausläufer des Urals und Westsibirien die Grenze.

Die Aral-Kaspis-Niederung umfaßt ein riesiges Gebiet von 400 Millionen Hektar, Wenn wir im Geiste von Norden nach Süden oder Westen nach Osten diese Niederung durchstreifen, treffen wir nur Flugsand oder wüstenartige, endlose Steppen. Nur selten erfreut unser Auge ein einsamer Brunnen, der sich gleichsam hierher verirrt hat. Niedrige Saxaulsträudier, Wermutstauden, Büschel dürren Stechgrases — so können wir Stunden, Tage, Wochen durdi die Steppe reiten und treffen keine lebende Seele. Selten huscht eine Eidechse vor uns vorbei oder wird in der Ferne wie eine Vision eine Karawanenkette gegen den Horizont sichtbar, und dann umgibt uns wieder nur Sonne, versengte Steppe, Sand und glühender Wind. Und doch haben einst in der Aral-Kaspis-Niederung mächtige Reiche bestanden, haben Gärten ihre Wohlgerüche verbreitet und zahlreich Flüsse und Kanäle das Land kreuz und quer durchzogen. Jahrtausende sind vergangen. Die Flüsse sind verschwunden, die Kanäle ausgetrocknet, die Reiche vergangen, nur der Wind singt noch in seinen Liedern von ihnen, und ihr Andenken lebe fort in den uralten Sagen der Akynen.

Schon lange hat dieses unwirtliche, aber außerordentlich reiche Gebiet die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich gezogen. Die geographische Lage der Aral-Kaspis-Niederung würde nämlich den Anbau von langfaseriger Baumwolle, ebenso von Kautschuk, Zuckerrüben, Reis, Zuckerrohr, Wein, Getreide und ganz im Süden den Anbau von Zitrusfrüchten erlauben. Die Natur aber hat diesem Gebiet den Lebensquell entzogen: das Süßwasser; die Flüsse sind versiegt und •auch atmosphärische Niederschläge fehlen heute fast völlig. Die Niederung ist die Heimat der trockenen Winde.

In gewöhnlichen Jahren weht der trockene und heiße Wind der Aral-Kapsis-Niederung nach Osten in die Berggebiete Mittelasiens und Kasakstan, wo er nicht viel Unheil anrichtet. Manchmal ändert er aber seine Richtung und weht von Süden nach Nordwesten in die Don- und Wolgasteppe oder von Südosten nach Nordosten nach Westsibirien oder in den südlichen Ural. Dann beginnt in diesen Gebieten ein wolkenloses trockenes Wetter. Die Lufttemperatur erreicht tagsüber mitunter 50 Grad. Der Boden trocknet aus und bekommt Risse, die Pflanzen welken, und es entsteht eine sdireckliche Dürre. Viele Wochen lang fällt kein Tropfen Regen. Di warme feuchte Luft, die vom Atlantischen Ozean kommt und diesen Gebieten gewöhnlich Regen bringt, gelangt nicht mehr hieher. Ihr weht die trockene Luft aus der Aral-Kapsis-Niederung entgegen und verdrängt sie nach Nordosten in die

Tundra und Taiga. Hier kühlt sich die feuchte Luft des Atlantiks ab, und es regnet auf die Tundra, die Sümpfe und die endlose

Taiga.

Die Aral-Kaspis-Niederung braucht Süßwasser. Wasser könnte hier Wunder wirken und diese Wüste in einen blühenden Garten verwandeln. Aber woher Wasser nehmen? Schon lange haben die Gelehrten zahlreiche und sehr verschiedene Vorschläge gemacht, aber durch keinen dieser Vorschläge konnte das Problem zur Gänze gelöst werden. Die Lösung des Problems hat nun der Ingenieur M. M. Dawydow gefunden. Ihm kam der auf den ersten Blick phantastisch scheinende Gedanke, den sibirischen Flüssen Ob und Jenissei einen Teil ihres Wassers zu nehmen und es aus dem bisherigen gegen Norden gerichteten Lauf in die unermeßlichen Weiten der Aral-Kaspis-Niederung gegen Süden zu lenken. Dadurch könnten die Steppen und Halbsteppengebiete in blühende Gärten mit üppigem Pflanzenwuchs verwandelt, der Treibsand aufgehalten, der Feuchtigkeitsgehalt der Luft erhöht und ein für alle Male die Ursache der trockenen Winde beseitigt werden. Außerdem würde die Umkehrung der sibirischen Flüsse es möglich machen, das Wasser der Wolga, der Kura, des Araks, Terek, Amu-Darja, Syr-Darja und Ural für Bewässerungsenergie und Transportzwecke auszunützen. Vom Karelischen bis zum Kaspischen Meer würde sich eine tiefe, mächtige Wasserstraße erstrecken. Außerdem könnten nach Verwirklichung des Planes neue Wasserkräfte nutzbar gemacht und die Industriezentren des Urals, Westsibiriens, Mittelasiens und Kasakstans mit verbilligtem Strom versorgt werden.

Wie aber kann das Wasser, das Sibirien nicht braucht, nach Süden gelenkt werden? Tausende Kilometer trennen die nach Norden fließenden Ströme Sibiriens von der Aral-Kaspis-Niederung. Wie kann man die Flüsse Sibiriens zwingen, umzukehren und ihr kühles Wasser nidn dem Ozean, sondern dem heißen Wüstensande zu geben?

Zwischen dem Aral- und dem Kaspissee und den sibirischen Flüssen bildet die Turgai-höhe die Wasserscheide. Sie liegt 125 Meter über dem Meer und ist das Schloß, das den großen Flüssen den Zutritt zum Aral- und Kaspischen See versperrt. Vor Zeiten aber gab es dieses Schloß noch nicht.

Schon vor vielen Jihren hat der russische Gelehrte Tanfiljew festgestellt, daß in grauer Vorzeit die Flüsse Ob und Irtysch zusammenflössen und ihr Wasser nadi Westen in die Aral-Kaspis-Niederung trugen. Der Lauf der vereinigten Flüsse Ob-Irtysch führte über die Kulundasteppe in die Irtysch-Ischim-Steppe, wandte sich dann der Stadt Kurgan zu und ging entlang dem Bett des heutigen Tobol und seines Nebenflusses Ubagan durch da9 Turgaitor in die Aral-Kaspis-Niederung. Die späteren geologischen Umbildungen veränderten das Relief der Landschaft und schufen das jetzige Flußsystem des Karischen Meeres. Zwischen den Flüssen Westsibiriens und den Flüssen des Aralsees entstand eine Wasserscheide, deren höchster Punkt der Kamm des sogenannten Turgaitors war. Am nördlichen Abhang dieses Kammes entstand der Ubagansee, dem der Ubagan entspringt. Südlich des Kammes entstand der Turgai-, der Tschelkar-Tengis-und der Aralsee.

Ingenieur Dawydows Plan sieht vor, auf eben diesem Wege, unter Benützung der alten Flußläufe und neu entstandenen Seen, das Wasser in die Aral-Kaspis-Wüste zu lenken. Der Kaspissee ist vom nördlichen Meer und seinen Flüssen durch ein 125 Meter hohes Hindernis abgetrennt. Der nächste sibirische Fluß, der Ob, mit seinem Nebenfluß Irtysch ist dort, wo er für die Aral-Kaspis-Niederung das nötige Wasser liefern könnte, mehr als 2000 Kilometer vom Aralsee entfernt. Sein Niveau liegt an dieser Stelle fast 30 Meter unter dem Wasserspiegel des Aralsees. Folglich wird der Fluß niemals von selbst in den Aralsee münden, sondern er muß gezwungen werden, sich nach Süden zu wenden. Dawydow schlägt zu diesem Zwecke vor, etwas unterhalb der Einmündung des Irtysch in den Ob, bei der Siedlung Belogorie, einen Staudamm zu errichten. Dieser Damm wird das Flußbett versperren, den Wasserspiegel auf das Niveau des Kaspischen Meeres heben und es in die Aral-Kaspis-Niederung leiten müssen. Die durch den Staudamm geschaffene Talsperre wird eine Fläche von ungefähr 250.000 Quadratkilometer umfassen, das heißt bedeutend größer sein als die Hälfte des Schwarzen Meeres und fast .siebenmal größer als das Asowsche Meer. Das durch die Talsperre unter Wasser gesetzte Gebiet ist sumpfig und dünn besiedelt, der verursachte Schaden wird also nicht groß sein.

An der Talsperre Belogorie kann ein Elektrizitätswerk von außerordentlicher Kapazität errichtet werden. Dos durch den Damm aufgehaltene Wasser wird sich entlang der Flüsse Ob, Irtysch, Tobol und dessen Zufluß Ubagan stauen und das Turgaitor erreichen. Zur Uberwindung des Turgaitors ist ein Kanal von 935 Kilometer Länge vorgesehen. Am Turgaitor soll ein weiteres mächtiges Elektrizitätswerk errichtet werden. Nach der Überwindung der Wasserscheide wird das Wasser im ausgetrockneten Bett des Turgai in den Tschelkar-Tengissee fließen und von dort im trockenen Bett des Irgis-Turgai in den Aralsee. Aus dem Aralsee wird es durch einen Kanal in die Niederung von Sarakamysch gelangen, sie anfüllen und einen großen, 260 Milliarden Kubikmeter fassenden See bilden. Von hier wird das Wasser im ausgetrockneten alten Flußbett des Usboj noch 775 Kilometer weit fließen und in den Kaspischen See münden.

Für die spätere Zukunft sieht das Projekt die Vereinigung der Nachbarflüsse Ob und Jenessei vor, so daß ein Teil des Wassers des Jenessei ebenfalls nach Süden geleitet werden kann. Zu diesem Zwecke soll am Jenessei unterhalb der Einmündung der Padkamennaja Tunguska ein Staudamm errichtet werden, mit dessen Hilfe 9000 Kubikmeter Wasser in der Sekunde abgefangen werden können. Diese Wassermenge kann dem Jenessei entnommen werden, ohne daß die oberhalb des Staudammes gelegenen Wasserkraftwerke einen Schaden erleiden, aber auch ohne den Unterlauf zu beeinträchtigen.

Um das Problem der Verbindung des Jenessei und Ob mit dem Aral- und Kaspi-schen See zu lösen, müssen ungeheure Erdmassen ausgehoben werden. Würde man mit der ausgehobenen Erde einen Bahndamm von 3,5 Meter Höhe bauen, so würde dieser von der Erde bis zum Mond reichen. Die moderne Baggermaschine kann diese Arbeit jedoch in sedw bis acht Jahren bewältigen.

Noch ist alles Plan. Aber es gehört zu der Wirkweise des. Sowjetstaates, dieser zum Staat gewordenen Idee des Materialismus, im Räume der materiellen Welt die größten Kraftanstrengungen zu machen. Hierin liegt ihre ernsteste Bedeutung. Eer Sowjetstaat hat auch hier bereits die Mittel zur Verfügung gestellt, um das Riesenprojekt Dawydows weiter zu bearbeiten. 15 bis 20 Jahre werden vergehen und tau sende Kubikmeter Wasser aus dem Ob und Jenessei werden sich nach Westen wenden und in die Wüste ergießen. An den Ufern der neuen Ströme sollen Städte emporwachsen, Fabrikschlote rauchen, Gärten erblühen. Vielleicht wird dann das Andenken an die Wüste der Aral-Kaspis-Niederung nur noch in den Liedern der Akynen weiterleben.

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