6738892-1966_33_07.jpg
Digital In Arbeit

Ärmer als Hafenarbeiter

Werbung
Werbung
Werbung

Die interamerikanischen Planer kämpfen seit Jahren darum, daß das Erziehungswesen den „Notwendigkeiten des Fortschritts“ angepaßt wird. In der Tat ist die Zahl der Studenten in Lateinamerika zwischen 1960 und 1964 von etwa 500.000 auf zirka 700.000 gestiegen. In Brasilien hat sich die Zahl der Universitätsbesucher in 10 Jahren verdrei-facht, wobei sich der Anteil der Ingenieursfakultät (von 10 auf 20 Prozent) verdoppelt hat.

Es gibt aber erst Ansätze für wissenschaftliche und technische Forschungsinstitute, mit denen Lateinamerika den Anschluß an die moderne Welt Anden muß. Noch nicht ein Tausendstel des Nationaleinkommens wird für sie verwendet.

Kein Einzelschicksal

Ein 24jähriger Bekannter von mir hat eifrig in Argentinien Medizin studiert. Ende 1965 hat er das letzte Examen .mit Auszeichnung bestanden. Bei einer Ausschreibung für Ärztestellen im öffentlichen Kinderhospital in Buenos Aires hat er sich mit 200 Kollegen beworben und ist mit 17 anderen eingestellt worden. Seit April 1966 ist er dort ganztägig beschäftigt. Das Essen ist miserabel. Den Arztkittel muß er selbst mitbringen. Das Gehalt beträgt 22.000 argentinische Pesos — etwa 2400 Schilling — aber bis Mitte Juli ist ihm noch kein Centėsimo gezahlt worden! Wenn die Frau nicht im Büro arbeiten und die Familie nicht dem jungen Mann helfen würde, wüßte er nicht, wie er leben sollte.

In den meisten lateinamerikanischen Staaten gibt es keine Krankenkassen, weder obligatorische noch freiwillige. In Brasilien schafft jede Krankheit ein schweres Problem, auch für den Mittelstand. Die öffentlichen Hospitäler sind meist in grauenhaftem Zustand. Die wenigen privaten Krankenhäuser sind ebenso teuer wie die Ärzte.

Ein Wohlfahrtsstaat...

In Uruguay, dem „Wohlfahrtsstaat Nr. 1 des Kontinents“, fehlt es in den öffentlichen Hospitälern auch an den primitivsten Heilmitteln, wenn auch die besten Ärzte nebenberuflich in ihnen arbeiten. Aber es gibt „Mutualistas“, „Krankenvereine auf Gegenseitigkeit“. Sie umfassen Berufsgruppen, zum Beispiel diie Bauarbeiter, oder haben sich um Parteien, zum Beispiel die „Blanco“- Partei, oder Emigrantenkreise gebildet. So gibt es eine Krankenkasse und ein Hospital der spanischen und der italienischen Kolonie. Die größte „Mutual: sta“, das „Sindicato Mėdico“, steht allen offen. Sie hatte 160.000 Mitglieder. Aber die Inflation zerstört alle Vorsorge. Die Quote ist teuer geworden. Eine vierköpflge Familie zahlt etwa

1000 Uruguaypesos, zirka 350 Schilling im Monat! Das sind 10 bis 30 Prozent eines Beamtengehaltes.

Dabei ist die Lage der Ärzte nicht erfreuüch. Zahlungskräftige Privatpatienten gibt es kaum. Die Mediziner haben meist mehrere Posten, einige sind auch nebenberuflich Gymnasialprofessoren. Vor allem arbeiten sie aber für diese „Mutualistas“. Diese zahlen ihnen monatlich 37 Pesos (14 Schilling) bei Behandlung in der Sprechstunde oder 140 Pesos (48 Schilling) für alle Hausbesuche dieses Monats.

Der jetzt 40jährige Liber Rodri- guez ist der erste Hafenarbeiter, der Arzt wurde. Sein Vater verkaufte an einer belebten Straßenecke Zeitungen. Der Sohn tat es auch, bis er 1945 einer der 600 Stauer des Monte- videaner Hafens wurde. Nebenbei ging er mit 23 Jahren zuerst auf das Abendgymnasium, dann auf die Universität, sang im Universitätschor, spielte in der Liga Universitaria Fußball und fuhr als Sanitätsgehilfe um die halbe Welt. Er hat jetzt eine Frau und ein dreijähriges Kind. Er will vorläufig Hafenarbeiter bleiben und sich nebenbei als Arzt spezialisieren. Aber wenn man vom Sozialprestige absieht, ist der Beruf des Stauers besser, jedenfalls eindringlicher. Ein Stauer verdient etwa

18.0 Pesos (ziika 6600 Schilling) im Monat. Der Arzt muß im Monat 160 Patienten in seiner Sprechstunde und 80 im Hause laufend behandeln, um das Einkommen eines Hafenarbeiters zu erreichen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung