Ein Ort, wo das Schrullige zur Normalität gehört

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Der Amerikanerin Sarah Orne Jewett gebührte eine Platz neben Henry James, der auch intensive Gesellschaftsanalyse betrieben hat.

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Der Amerikanerin Sarah Orne Jewett gebührte eine Platz neben Henry James, der auch intensive Gesellschaftsanalyse betrieben hat.

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Als Sarah Orne Jewett im Juni 1909 in South Berwick, Maine, wo sie auch geboren wurde, im Alter von knapp 60 Jahren verstarb, war sie eine bekannte und gefeierte Schriftstellerin. Nichts aus der Zeit Gefallenes haftet ihrem Werk an, so ist es verwunderlich, dass eine Autorin von solch außerordentlichen Fähigkeiten im deutschen Sprachraum nicht längst ihren Platz neben Henry James, der auch intensive Gesellschaftsanalyse betrieben hat, einnehmen darf. Sie war eine sanfte Kämpferin, die wusste, was schiefläuft in ihrer Gesellschaft – das war die, die sich für die bessere hielt –, und versuchte schreibend der Dünkelhaftigkeit ihrer Zeitgenossen etwas entgegenzuhalten. Sie selbst entstammte einem wohlhabenden Haus, kannte das Milieu der Unterlegenen, dem sie sich in ihrem Roman „Deephaven“ aus dem Jahr 1877 bevorzugt zuwandte, nur aus der Distanz. In Episoden erzählt sie von den Menschen aus dem fiktiven Küstenstädtchen und greift dabei auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen zurück. Das Erfinden ist die große Stärke dieser Erzählerin nicht. Deephaven, ein Ort abseits der Sensationen: „Hier regte man sich über gar nichts auf, es gab keine Fabriken, und niemand schien es in irgendeiner Form eilig zu haben.“ Zwei junge Frauen verbringen zusammen den Sommer in einem Häuschen in Deephaven, durchstreifen die Gegend, gehen auf die Menschen zu, hören sich ihre Geschichten an, die erflunkerten ebenso wie die erlebten, verschaffen sich so einen Überblick über eine Gesellschaft, die von der Zukunft nicht mehr viel zu erwarten hat. Eine fortschrittliche Autorin ist zugange, wenn sie zwei selbstständige Frauen Unternehmungen machen lässt, die gemeinhin unter ihrer Würde stehen sollten. Nichts anzufangen weiß die Erzählerin, eine der beiden Frauen, mit den starren Klassenschranken, also nützt sie das Stilmittel der Ironie. Das ist kein Roman, der auf Handlung setzt. Schon gar nicht läuft er auf ein Ende zu, an dem man Bescheid weiß. Die Methode ist pointillistischer Art, wenn sich über zahlreiche Details das Bild einer Gesellschaft ergibt, über die die Zeit hinweggegangen ist. Erst der frische, jugendliche Blick erkennt die Starrheit von Konvention und die Sturheit der Bewohner. Bevorzugt schrullige Charaktere bekommen ihren Auftritt, Leute, die in einem Biotop heranwachsen, das von Außeneinflüssen und Modernisierungen weitgehend befreit ist. Ein vergessenes Buch, das sich gut in den Kanon der Moderne einfügt, wenn es die Chance bekommt, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Der Übersetzer Alexander Pechmann hat die Spürnase für Entlegenes und Vergessenes.

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