6793447-1970_50_05.jpg
Digital In Arbeit

„Von Frustration befreites Paradies“

Werbung
Werbung
Werbung

„Eine Minute im Leben von General Westmore-land ist obszöner als alle schmutzigen Wörter, die je von amerikanischen Autoren geschrieben worden sind.“ (Bucheinband des Porno-Reports von Henryk M. Broder) Allenthalben wird über Pornographie diskutiert. Manche verdienen daran: Wiens „Bücher-Herzog“, der den Buchhändler als „progressiv nach allen Richtungen hin“ definiert und „immer gerne andere Sachen“ macht, um „die Präsentation seiner Ware von der der Konkurrenz unterschieden zu wissen“, konstatiert: „Jedes zweite Buch enthält heute Pornographie.“ Die speziell gehandhabte Masche, mit Politik angereicherte Pornographie (oder um. gekehrt) als „progressive Literatur“ zu verkaufen, ist rentabel, denn „Leute, die nie in eine Buchhandlung gehen“ (Herzog) bekunden plötzlich Interesse — auch für Politik. Der an die kommerzielle Oberfläche gestiegene Underground will in Pornographie eingebettet Unterdrückungsmechanismen freilegen und Herrschaftsstrukturen demaskieren: Po-litporno als Gegenpol zur „Morgensum-sieben-ist-die-Welt-noch-in-Ordnung-Literatur“. Die politische Pornographie muß

nach dem Willen ihrer Schöpfer eine allumfassende Zertrümmerung gesellschaftlicher Werte beinhalten. Wichtigster Angriffspunkt ist das „Sexualmonopol der Ehe, denn der Ehevertrag entspricht“, so erfahren wir, „einer freiwilligen Amputation sexueller Bedürfnisse“ (Günther Amendt, Sexfront). Ist erst einmal die Ehe als sichtbares Systemsymbol abgeschafft, kann man sich den Hauptfeinden der Pornographie widmen: „der Papst, Billy Graham und die NPD bilden mit ihren Anhängern und Epigonen die Ecken des Dreiecks, in dem sich die Pornofeinde tummeln: sie maßen sich an, andere zu bevormunden“. (Henryk M. Broder, Wer hat Angst vor Pornographie?)

Sind auch die Träger der Zensurmechanismen freigelegt, bleibt die Frage: „Wie wollen binnenzensierte, unfreie Linke eine neue, freie Gesellschaft schaffen? Eine partiell ökonomisch — sozialistische Revolution ist-letztlich reaktionär, endet in Kolchosfron. Eine echte Revolution hingegen muß zunächst buchstäblich in die Hosen und unter die Röcke gehen, denn sowohl beim kapitalistischen wie beim sozialistischen Leistungszwang fungieren Anstand und Sitte als Peitsche.“ (Fred Viebahn, Revolution und Reaktion.) Aufgelockert mit Lenin-Zitaten („Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“) wird der „Verengung auf die Fortpflanzungsfunktion der Sexualität“ der Kampf angesagt. Pornographie als Vermittlung der Teilnahme am Sexualleben ihrer Subjekte definiert, wird uns in ein von Leistungszwang und Frustration befreites Paradies führen. Es wird keinen Kapitalismus mehr geben, denn dieser „beruht auf zwei Ausbeutungsformen: auf der ökonomischen Ausbeutung der Arbeitskraft im Betrieb und der ökonomischen Ausbeutung des Körpers und der Triebe in der Freizeit“. (Günther Amendt, Sexfront.) Was Turnvater Kalle vor Jahren tantiementrächtig vorexerzierte, exekutieren heute Protagonisten der Bücher „im Namen der Revolution“. Ihre Sexualbedürfnisse abturnend, wagen sie den „großen Sprung“. »

Wem aber die literarisch verbrämte Politpronographie zu wenig anschaulich ist, wem sie zu intellektua-listisch ist, der hat noch immer die Möglichkeit, auf Einfacheres auszuweichen, denn sadistische Nazioffiziere, Schühfetischisten und ne-krophile Maositen bevölkern Comicstrips, die sich als zeichnerisch aufgelöste, sprechblasenverzierte Trivialliteratur definieren. Politisch re-levierte Brutalitäten, Pornographie und Perversitäten eroberten nun auch die Welt von „Donald Duck“. Die feuilletonistische, um Definitionen nie verlegene Linke hat diese Gewalt- und Frauenemanzipation, Rassendiskriminierung und faschistoide Sadisten traktierende Polit-pornographie als „Comic mit Aufklärungsfunktion“ klassifiziert. Auch neurotisierten Analphabeten sollen die Augen über die „leistungsorientierte und repressive spätkapitalistische Gesellschaft“ geöffnet werden.

Und noch einmal „Bücher-Herzog“: „Früher machten die Behörden Schwierigkeiten.“ Heute allerdings ist „auf Grund der Ereignisse in der ganzen Welt auch in Österreich möglich, was vor Monaten nicht denkbar gewesen wäre“. Wir haben heute eben, schließt er, „eine tolerantere Auffassung — nicht zuletzt dank der innenpolitischen Situation.“ Die von der Linken geprägte Formel, daß die gegenwärtige Sexwelle Vehikel jedes kommenden Faschismus ist (Michael Siegert, „Neues Forum“), können wir erweitern: die gewünschte Pornowelle ist Vehikel der erhofften Anarchie.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung