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Problematik des Kollektivs

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Mit der großen Einwanderungswelle nach dem zweiten Weltkrieg wuchs die jüdische Bevölkerung Palästinas immense Jedoch fand nur ein kleiner Prozentsatz der Neueinwanderer den Weg in die Kibbuzim. Viele waren KZ-Insassen, und alles Organisierte war ihnen innerlich verhaßt. Sie wollten meistens eine eigene Familie aufbauen. Die Einwanderungswelle, die sich nach der Staatsgründung hauptsächlich aus orientalischen Juden zusammensetzte, war auch nicht fähig, in die Kibbuzim zu gehen, da sie viel zu primitiv waren, um überhaupt zu verstehen, daß man ohne „Arbeitslohn“ arbeiten kann. Diese Bevölkerungsteile zogen es vor, ein armseliges, Dasein als Notstandsarbeiter irgendwo in der Stadt oder auf dem Land zu fristen, statt Mitglieder eines großen, ihnen unverständlichen Kollektivs zu sein. So verringerte sich die Kibbuzbewegung auf nicht mehr als 5 Prozent Israels heutiger Gesamtbevölkerung. Auch die führende Rolle, welche diese Bewegung bis zur Staatsgründung innerhalb der jüdischen Bevölkerung spielte, ließ erheblich nach. Denn heute muß die Kibbuzbewegung selbst sehr schwer um ihr karges Leben als solches kämpfen.

Der Kibbuz ist trotz seiner autarki schen Tendenz keine abgeschlossene Insel. Politische und soziale Umwälzungen fanden ihren Widerhall auch in Kibbuzim. Die Kibbuzbewegung von heute ist nicht nur eine gesellschaftliche Lebensform, sondern basiert auch auf politischen Grundlagen. Die zwei größten Kibbuzbewegungen, Kibbuz Hameuchad und Kibbuz Arzi, stellen das Rückgrat der zwei großen sozialistischen Parteien dar. Aus diesem Grund wird auch ein großer Teil des Kibbuzbudgets, vor allem vor den Wahlen, zu politischen Zwecken verwendet. Die politischen Dispute, die vor einigen Jahren zwischen den zwei sozialdemokratischen Parteien autge-fochten wurden, verursachten sogar eine Spaltung innerhalb der Kibbuzbewegung und trugen dadurch zu deren Schwächung bei. Doch der Hauptfaktor, der heute gegen den Kibbuz ankämpft, ist der allgemeine Drang zur Steigerung des Lebensstandards. Ein Großteil der Kibbuzmitglieder, die in ihrem Kibbuz als einfache Bauern und Arbeiter tätig sind, könnten zweifellos dank ihres hohen intellektuellen Niveaus leitende Posten in der Wirtschaft außerhalb des Kibbuz bekleiden. Wenn sie aus ideeHen Gründen schon auf solch hohe- Positionen verzichten, so möchten sie wenigstens teilweise durch einen höheren Lebensstandard kompensiert werden.

Die zweite Generation der Kibbuzim wird auch von der allgemeinen Tendenz der Jugend des Landes beeinflußt. Nach der XX. Konferenz der Sowjetunion ging durch die ganze linkssozialistische Bewegung Israels eine Ernüchterung vor sich. Viele, die früher in der Sowjetunion ein sozialistisches Vorbild sahen, konnten dieses Vorbild nicht mehr akzeptieren, waren aber nicht fähig, ein neues Vorbild mit derselben Autorität zu finden. Die Kibbuzjugend, die sich früher für die sozialistischen Ideale begeisterte, nimmt heute diese Ideale als gewöhnliche Tatsachen auf, die man auch eventuell kritisieren kann. Die erste Generation der Kibbuzim hatte ein riesiges Aufbauprogramm vor sich. Sie erbauten im wahren Pioniergeist ihre Kollektivsiedlungen von Grund auf allein. Die zweite Generation konnte natürlich nicht mehr vor solche Avantgardeaufgaben gestellt werden. Ihre Aufgabe ist es, das Erbaute weiter zu erhalten und eventuell zu vergrößern. Eine Aufgabe, die wenig Geist und Abenteuer mit sich bringt.

Die allgemeine Militärpflicht in Israel gilt auch für Kibbuzmitglieder. Die Jugend der Kibbuzim, die eine weitaus bessere Bildung als die Stadtjugend erhält, avanciert verhältnismäßig schnell, so daß ein Großteil dieser Jugend Aussichten für eine gesicherte militärische Offizierslaufbahn hat. Nach einigen Jahren Dienst als Offizier ist es dann sehr schwer, wieder zur Pflugschar und zum Kuhstall zurückzukehren. Zu Israels Elitetruppen, wie Fallschirmspringer und Piloten der Luftwaffe, gehören zu einem großen Teil Söhne von Kibbuzmitglie-dern. Sie lernen dort von ganz nahe die Möglichkeiten kennen, die ihnen die Privatinitiative und der Staatsdienst bieten können. Ein Teil der Kibbuzjugend kann diesen Verlockungen nicht widerstehen, und auch, wenn er den Kibbuz nicht verläßt, so ist er trotzdem nur noch mit halbem Herzen dabei. Die heutige gesellschaftliche Struktur der israelischen Neueinwanderer ermöglicht es nicht, einen großen Menschenzuwachs aus diesen Elementen für die Kibbuzim zu rekrutieren, so daß heute der Nachwuchs für die Kibbuzim größtenteils nur aus den eigenen Reihen kommen kann. Die Kibbuzbewegung, die bis vor einigen Jahren aus ökonomischen Gründen Familien mit wenig Kindern befürwortet hat, predigt jetzt kinderreiche Familien. Heute hat die Durchschnitts-kibbuzfamilie bereits drei bis vier Kinder.

Aus den oben genannten Gründen sieht sich der Kibbuz genötigt, mit allen Kräften für einen hohen Lebensstandard zu sorgen, sogar wenn dies auf Kosten der Rentabilität des Kollektivs geht. Kibbuzim, die zum Beispiel sehr verschuldet waren, sahen sich trotzdem genötigt, Millionen israelische Pfunde für den Neubau von modernen Speisesälen, Kulturklubs und Kinos zu investieren, damit ihre Mitglieder nicht das falsche Gefühl haben, daß der _ städtische Arbeiter einen höheren “Lebensstandard hat. Das Radiogerät und der Eisschränk'.“die bis vor' einiger Zeit nur in öffentlichen Sälen der Kibbuzim zu finden waren, gehören heute schon zum Inventar jeder alteingesessenen Kihbuzfamilie.

Doch die Probleme der Kibbuzim sind nicht nur gesellschaftlicher Art. Bisher erfüllte der Kibbuz seinen Zweck als landwirtschaftliche und Grenzsiedlung. Nach einigen Jahrzehnten schwerer landwirtschaftlicher Arbeit ist heute aber ein großer Teil der älteren Generation nicht mehr fähig, diese anstrengende körperliche Arbeit auszuführen. Daher war der Kibbuz gezwungen, einen Teil seines Erwerbet durch Errichtung von Industriebetrieben zu bettreiten, denen jedoch nicht immer genau die Arbeitskräfte det Kibbuz angepaßt werden konnten. Es wurden Lohnarbeiter eingestellt, so daß der Kibbuz. dessen Grundfeste eigene Arbeit ist, und der prinzipiell gegen Beschäftigung und „Ausbeutung“ anderer Arbeiter ist, selbst gegen die Grundprinzipien handelte. In vielen Kibbuzim wurde ein Großteil der Mitglieder Vorarbeiter in den Fabriken und auf dem Felde — eine Tatsache, die sich irgendwie auf die ideologisch-gesellschaftliche Struktur der Kibbuzim auswirkte. Fast bei jeder Tagung der Kibbuzbewegungen ist einer der Hauptpunkte zur Tagesordnung djf Abschaffung der Lohnarbeit,.- ohne natürlich, dieses Problem lösen zu können. Der Drang zum individuellen Leben, der im allgemeinen das 20. Jahrhundert beherrscht, brachte es mit sich, daß ein kleiner, heute noch unbedeutender Teil der Kib'-uzim zu kooperativen Dörfern überging, in denen jede Familie für sich lebt und wohnt.

Die Kibbuzbewegung ist heute trotz allem eine noch sehr lebenskräftige gesellschaftliche Struktur im israelischen Leben, aber die Tatsache, daß sie mit dem Revölkeriingszuwa^iis des Staates nicht Schritt halten kann. bringt es mit sich, daß, wenn kein großer Zuwacht von der ausländischen jüdischen Jugend in die Kibbuzim kommt, der gesellschaftliche Einfluß dieser Bewegung in Israel immer kleiner wird, to daß die Gefahr besteht, daß die heute zirka hunderttautend-köpfige Bewegung in einigen Jahrzehnten in Israel zu einem unscheinbar ideellen und utopitchen Faktor wird.

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