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Digital In Arbeit

Der Staat ist für alle gleich

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ÜBER KEIN LAND IST in der letzten Jahren und insbesondere ir den letzten Monaten mehr geschrieben worden als über Israel.

Über ein Phänomen aber hat mar wenig hören oder lesen können, der Kibbuz, einer wohl einzigartigen Form der menschlichen Gemeinschaft.

Har-el (Berg Gottes) hieß der Kibbuz, in dem ich lebte, und die Erfahrungen, die ich gemacht habe, mögen nicht für jeden Kibbuz zutreffen, da sie fast ausschließlich auf meinem Leben und Erleben in diesem Kibbuz basieren. In diesem Har-el, der in der Mitte zwischen Jerusalem und Tel Aviv, kaum 100 Meter von der früheren Grenze Jordaniens entfernt, liegt, habe ich eine begeisternde Jugend kennengelernt, mit erfrischender Tatkraft und Lebensfreude. Die jungen Leute erkennen hier ihre Situation als Chance und Aufgabe eine Gemeinschaft zu formen, in der der einzelne sein Dasein als ein befriedigendes erlebt.

Frei von Vorurteilen und Ressentiments wächst hier eine Generation heran, die die Verantwortung für ihr Leben und Tun an keine Organisation und keine Institution abgibt, und auch keiner solchen eine Entscheidungsmacht über ihr Handeln überläßt. Diese Art des Zusammenlebens verbindet für seine Mitglieder ein Maximum an Freiheit mit einem Maximum an Möglichkeit sein Ich zu formen, sich au finden. Hier ist die Startposition für jeden gleich, und die Ausrede der zwingenden Umstände fällt weg. Hier ist die Frage, was bin ich, gleichbedeutend mit was habe ich aus mir gemacht — und das spornt an.

IM HEBRÄISCHEN BEDEUTET KIBBUZ soviel wie Gruppe, Gemeinschaft. Die Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts hat es aber mit sich gebracht, daß Kibbuz eine ganz besondere Art der Gemeinschaft bedeutet, eine Gemeinschaft, die im Kampf um die Entstehung und die Entwicklung Israels eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. Kibbuz stellt einen auf kollektivem Zusammenleben basierenden bäuerlichen Zusammenschluß dar.

Der erste Kibbuz wurde 1909 eine Meile südlich des Sees Genezareth gegründet, und seine Gründer nannten ihn Degania, zu Deutsch Kornblume. Die Initiatoren dieses ersten Zusammenschlusses waren Juden aus Osteuropa, junge Angehörige der zionistischen Arbeiterbewegung. Das Quälende ihres Daseins in der Diaspora und das Bewußtsein des Versagens aller Assimilationsversuche hatten das mächtige Gefühl in ihnen wachgerufen, daß auch sie ein Recht haben müßten, ihr eigenes Leben in ihrem eigenen Land zu leben. Sie hätten sich für ihre Pioniertat kaum einen einsameren und ungesünderen Ort wählen können, denn sie ließen sich mitten im Sumpfland des Jordantales nieder. Doch hier war ein Stück Israel, das sie, als Intellektuelle an manuelle Arbeit kaum gewöhnt, mit ihren eigenen Händen wiederaufbauen konnten. Hier entwickelten sie ihre faszinierende Form des Zusammenlebens. Die gewaltige Aufgabe, malariaverseuchte Sümpfe urbar zu machen, und die ständige Gefahr des Angriffs von arabischen Freischärlern trugen das ihre zur Formung dieser Gesellschaft bei.

Es wurde eine Gemeinschaft geformt, innerhalb derer es keinerlei Geldverkehr geben sollte.. Die Gemeinschaft als solche, sollte für alle Bedürfnisse des Kibbuz und die Bedarfsbefriedigung aller Mitglieder verantwortlich sein. Privateigentum sollte nur in Form des Gebrauchseigentums möglich sein, bezahlte Arbeit sowie Privathandel unzulässig. Der Handel mit den Kibbuzprodukten sollte von der Gruppe und zum Wohl der ganzen Gemeinschaft betrieben werden. Jede Arbeit, von der Feldarbeit bis zur ärztlichen Tätigkeit sollte das gleiche Ansehen genießen, alle Mitglieder sollten sich der gleichen Rechte und des gleichen Lebensstandards erfreuen.

So utopisch dieses Programm anmuten mag, es wurde verwirklicht, kmH heute leben an die 80.000 Israe lis in Gemeinschaften dieser Art, in einem der 288 Kibbuzim. Der Aufbau und die Verwaltung eines Kibbuz variiert zwar mit der Größe und Wirtschaftsstruktur, ist aber in seinen Grundzügen immer gleich.

DAS HERZ DER VERWALTUNG ist die wöchentliche Versammlung aller Kibbuzmitglieder. Bei älteren Kibbuzim schwankt die Mitgliederzahl zwischen 200 und 400 — es gibt auch welche mit weit mehr, bei jüngeren zwischen 50 und 150. In diesen Versammlungen werden die Richtlinien der Kibbuzpolitik festgelegt, Komitees für die verschiedenen Lebensbereiche ins Leben gerufen, deren Mitglieder und Vorsitzende gewählt, das Budget beschlossen und genehmigt und über die Aufnahme neuer Mitglieder entschieden. Für einen Beschluß genügt einfache Stimmenmehrheit, etwa bei der Aufnahme neuer Mitglieder.

Junge Leute, die Mitglieder werden wollen, leben vor ihrer Aufnahme ein Jahr in dem Kibbuz, in den sie aufgenommen werden wollen, so daß einerseits sie selbst erkennen können, ob sie für ein Leben im Kibbuz fähig sind, ob es das Leben ist, das sie leben wollen, und anderseits, um den Kibbuzmitgliedern die Möglichkeit zu geben, das neue Mitglied kennenzulernen, um es dann anzuerkennen oder abzulehnen. Besitzt man Vermögen, so geht dieses mit der Aufnahme in den Kibbuz in dessen Besitz über; es gibt Fälle, bei denen sich dieses Vermögen auf zehntausende israelischer Pfund belief.

Die alltäglichen Angelegenheiten eines Kibbuz werden von den Komitees behandelt, deren wichtigstes das Sekretariat ist. Dieses Sekretariat besteht aus dem Generalsekretär und dem Schatzmeister, die den Kibbuz auch im Verkehr nach außen vertreten, weiters aus dem Arbeitskoordinator und dem Farmmanager, manchmal gehört auch noch der Vorsitzende des Erziehungskomitees dazu. Alle diese Männer arbeiten mit einem Komitee zusammen, so der Schatzmeister mit dem Finanzkomitee, der Arbeitskoordinator mit dem Arbeitskomitee und der Farmmanager mit dem Produktionsplanungskomitee. Wie viele dieser Komitees es in einem Kibbuz gibt, hängt von der Größe und den Erfordernissen eines Kibbuz ab. Komitees wie das Erziehungskomitee oder das Komitee zur Förderung kultureller Aktivität gibt es in jedem, auch in den kleinsten und ärmsten. In einem großen und reichen Kibbuz, einem Kibbuz mit Reitpferden, Tennisplätzen, Kino, Theater, Restaurationsbetrieben, Segel- und Motorbooten, einem Kib buz, der für seine Mitglieder Europareisen usw. organisiert — gibt es dementsprechend mehr Komitees.

EINES DER ZIELE DER KIBBUZBEWEGUNG war es, dem Mitglied Befriedigung durch seine produktive Arbeit zu verschaffen. Jedes Mitglied macht jede Arbeit, ob es nun das Servieren im gemeinsamen Speisesaal ist oder Produktionsplanung, der soziale Standard ist unabhängig von der Art der Tätigkeit, die man ausübt. Wenigstens einmal arbeitet jedes Mitglied in jedem der verschiedenen Arbeitsbereiche, um so den Platz zu finden, an dem seine Fähigkeiten am besten genützt sind. Hat die Gemeinschaft und das Mitglied diesen Platz erkannt, dann ist es möglich, daß sich das Mitglied, falls es sich um ein spezielles Gebiet handelt, auch außerhalb des Kibbuz fortbildet, wobei die Kosten der Ausbildung von der Gemeinschaft getragen werden. Ergibt es sich, daß eine besondere Fähigkeit, für die im Kibbuz kein Bedarf vorhanden ist, außerhalb des Kibbuz besser genützt ist, so kann man auch außerhalb des Kibbuz arbeiten und trotzdem Mitglied bleiben. Das Einkommen fließt jedoch dem Kibbuz zu. So kommt es auch, daß man einen Abgeordneten zur Knesset an einem Sabbat im Speisesaal eines Kibbuz servieren sehen kann.

Diese Art der Mitgliedschaft bringt jedoch Probleme mit sich, die noch nicht vollständig gelöst sind. Meist arbeitet ein Kibbuzmik, wie die Kibbuzmitglieder liebevoll im Land genannt werden, im Kibbuz, wobei sein Arbeitstag zwischen acht und zehn Stunden variiert. Je nach Bedarf und Fähigkeit wird er vom Arbeitskoordinator für eine bestimmte Tätigkeit eingeteilt.

Der Lebensstandard eines Kibbuz- nik ist von der jeweiligen finanziellen Lage seines Kibbuz abhängig. Für die täglichen Bedürfnisse stehen ihm alle Kibbuzeinrichtungen zur Verfügung, wie Wächserei, Nähwerk- stätte, Ordination usw.

Eines der interessantesten Probleme in einem Kibbuz ist die Erziehung der Kinder, denn man versuchte beim Aufbau dieser neuen

Gesellschaft auch ein neues Erziehungssystem einzurichten.

In Gruppen zu je fünf im gleichen Alter wachsen sie unter der Aufsicht einer Ziehmutter heran, die für diesen Beruf nach den neuesten Erkenntnissen der Kinderpsychologie ausgebildet ist. Meist schlafen die Kinder auch gemeinsam in eigens dafür errichteten Häusern. Die Kinder werden ihren Eltern nicht weggenommen, doch schon der Umstand, daß beide Elternteile den ganaen Tag arbeiten, bringt es mit sich, daß die Aufgabe der Kindererziehung auf die Gemeinschaft übergehen mußte. Auch während ihrer Schulzeit bleiben diese Fünfergruppen zusammen, und nicht selten bekommen sie auch innerhalb des Kibbuz Aufgaben, die sie als Gruppe zu lösen haben, wie das Anlegen eines Blumengartens oder das Betreiben einer Miniaturfarm. Die Schulen sind keine öffentlichen, sondern kibbuzeigene, selbst die Mittelschulen, die sich von den öffentlichen Mittelschulen dadurch unterscheiden, daß auch landwirtschaftliche Fächer gelehrt werden und auch praktisch gearbeitet wird.

Ein Nachteil liegt in diesem System darin, daß die Reifeprüfung einer Kibbuzmittelschule für die Aufnahme an eine Universität nicht genügt, so daß die Absolventen, falls sie die Universität besuchen wollen, die Reifeprüfung vor einer staatlichen Kommission zu wiederholen haben.

NACH ERREICHUNG DES 18. Lebensjahres muß der Wehrdienst geleistet werden, die jungen Männer haben 26, die jungen Frauen 20 Monate zu dienen. Dies ist die Zeit der Prüfung, in der sich der junge Kibbuznik darüber klar werden soll, ob er im Kibbuz bleiben will oder ob er eine Karriere in der Stadt diesem Leben vorzieht. Hier wird der Erfolg dieser neuen Gemeinschaft am deutlichsten, denn nur ein verschwindender Prozentsatz entschließt sich den Kibbuz zu verlassen.

Haben die jungen Leute dann ihren Wehrdienst geleistet und sich für das Leben im Kibbuz entschieden, dann werden sie in den täglichen Betrieb eingegliedert und beginnen ihren Arbeitstag wohl ähnlich dem, den ich erlebt habe.

Kurz vor vier Uhr läutet der Wek- ker. Eine halbe Stunde später sitzen wir, Männlein und Weiblein, auf einem Traktoranhänger, unterwegs zu den Apfelplantagen. Jeder trägt seinen unerläßlichen Kowa Tembel, zu deutsch Narrenhut (die für Kib- buzniks typische Kopfbedeckung), und spätestens zu diesem Zeitpunkt wird das erste Lied angestimmt. Singen und Lachen, das sind die für Kibbuzniks typischen Lebensäußerungen, und unter Singen und Lachen vergeht auch der erste Teil des Arbeitstages.

Um 9.30 Uhr geht es dann zurück zum Kibbuz, um ein ausgiebiges Gabelfrühstück einzunehmen. Der Speisesaal ist jetzt bis auf den letzten Plate besetzt. Dies ist die Zeit, in der alle Zusammenkommen, die auf den Baumwollfeldern arbeiten, die Geflügelleute, die noch nach ihrem Federvieh riechen, die Bewässerungsspezialisten, die nach einem bestimmten Plan die Wasserleitungen täglich neu verlegen, um ja von dieser Kostbarkeit nichts zu verschwenden. Die jungen „Ziehmuttis” bringen ihre Sprößlinge und berichten den begierig lauschenden Eltern von den neuesten Wundertaten ihrer Kinder.

Alles ist laut und fröhlich und es ist sehr schwer sich vorzustellen, daß die meisten dieser jungen Leute noch bis vor kurzem im Krieg waren. Auch die verwunderliche Tatsache, daß niemand vom Krieg spricht, macht diesen Umstand immer wieder vergessen. Dabei hätte gerade Har-el Grund von seinen Heldentaten zu sprechen, nicht nur, daß Har-el ein besonders gefährdeter Grenzkibbuz war, Har-el birgt auch einen kleinen Helden, den ersten israelischen Soldaten, der die Klagemauer erreichte. Sein Gesicht strahlte kurz nach dem Krieg aus allen Illustrierten. Doch selbst er, ein bescheidener junger Mann von 22 Jahren, spricht nur ungern vom Krieg.

Nach dem Gabelfrühstück geht es dann noch einmal für zweieinhalb Stunden zu den Äpfeln. Die Sonne ist inzwischen kräftiger geworden, doch selbst Temperaturen von 35 Grad im Schatten vermögen den Arbeitseifer nicht zu lähmen.

Beim Mittagessen wird beschlossen, an diesem Nachmittag baden zu fahren. Da Har-el einer der wenigen Kibbuzim ist, in dem das Schwimmbad erst in Bau ist, bedeutet das gleichzeitig einen Besuch im Nachbarkibbuz Narschon. Nach einer kurzen Siesta treffen wir uns, um wieder einmal per Traktor zu reisen.

In Narschon gibt es eine besondere Feier, eine Hochzeit. Eine junge amerikanische Studentin, die als freiwillige Helferin nach Narschon gekommen ist, hat hier ihre große Liebe gefunden und sich für das Leben im Kibbuz an der Seilte ihres Kibbuzniks entschieden. Es ist wie ein Freitagabend in Har-el, an dem als Vorabend des einzig arbeitsfreien Tages, des Sabbat, immer getanzt und gefeiert wird.

SELTEN HABE ICH SO VIELE fröhliche, lebenslustige junge Menschen beisammen gesehen, ein Regenbogen von Nationalitäten.

Spät fahren wir zurück nach Har-el, und nach dem allabendlichen Basketball- und Volleyballmatch trennen wir uns, um einzeln oder in Gruppen den Abend nach Wunsch und Ambition zu gestalten. Einige holen neue Bücher aus der Bibliothek, um den Abend lesend zu verbringen, andere bringen den Film- vorführapparat, um sich im Klub- raum einen Film anzusehen…

Zwischen elf und zwölf kehrt allgemein Ruhe in unserer kleinen Siedlung ein, die wieder einmal von den zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Nachtwächtern behütet wird.

Ich war auf der Suche nach neuen Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens nach Israel gefahren — hier im Kibbuz fand ich eine höchst nachahmenswerte Lösung. Eine Lösung, die keinen der freiwilligen Helfer nicht begeistert und zu einem Wiederkommen nicht verlockt hätte.

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