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Handwerk und Kunst

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Vor etwas mehr als 100 Jahren hat sich im Vorarlberger Rheintal eine Entwicklung angebahnt, die für Gegenwart und Zukunft dieses Gebietes entscheidend sein sollte. Ursprünglich von der älteren Schweizer Stik-kereiindustrie inspiriert, ist heute die Vorarlberger Stickereiindustrie in Musterung und Geschäftsabwicklung vollkommen selbständig, ja oft wegweisend.

Annähernd 1000 Großstickmaschinen sind in wenigen „Stickereigemeinden“ konzentriert. Dennoch verliert sich die Industrie für den Betrachter der Landschaft völlig in den weit über 100.000 Obstbäumen, denn die Struktur der Vorarlberger Stickereiwirtschaft wird von einer relativ großen Anzahl von Klein- und Mittelbetrieben geprägt. Es gibt über 300 kleingewerbliche Sticker, meist Familienbetriebe, die für Exporteure (hierzulande nennt man sie Fabrikanten) im Lohn arbeiten. Etwa 100 Industriebetriebe treten als selbständige Exporteure auf und machen sich gegenseitig oft das Leben schwer genug.

Man kann die Erfolge der Vorarlberger Stik-kereiindustrie kaum mit der Entwicklung in anderen Branchen messen. Im Jahre 1969 wurden jedenfalls aus Vorarlberg Stickereien im Werte von mehr als 850 Millionen Schilling exportiert. Im Inland blieben nur 5 Prozent der Erzeugung. An den Vorarlberger Textil-ausfuhren ist die Stickerei mit etwa 35 Prozent beteiligt. Und natürlich ist — man ersieht es aus diesen Zahlen — die Stickereiindustrie eine der exportintensivsten Branchen Österreichs.

Mehr als 100 Staaten kaufen Vorarlberger Stickereien. Daß die Bundesrepublik Deutschland der größte Abnehmer ist, verwundert sicher nicht. Großbritannien, Japan, Singapur und Hongkong sind wichtige Partner. Außerdem zählen zu den erfolgreichsten Märkten Australien, Südafrika, die Schweiz, die Niederlande und Spanien.

Immer noch ist der größte Teil der Stickereien Baumwolle. Trotzdem kann man nicht übersehen, daß sich die Synthetios auch in der Stickereiindustrie einen immer größeren Marktanteil erobern.

Die Sommermonate bringen immer eine gewisse Stagnation in der Nachfrage nach Stickereien, doch ist dieses Jahr die Beschäftigungslage im allgemeinen sehr gut, obwohl die Mode nicht in allen Bereichen stik-kereifreundlich ist.

Sicher ist der österreichische Inlandsmarkt viel aufnahmefähiger, als allgemein angenommen wird. Es sind im letzten Jahr mehr Spitzen- und Stickereierzeugnisse aus dem Ausland eingeführt worden, als die Vorarlberger Stickereiindustrie auf den österreichischen Markt gebracht hat.

Sorgen bereitet der Stickereiindustrie das Arbeitskräfteproblem und auch die ständig stark ansteigende Linie der Produktionskosten. Die Stickerei kann nicht so stark rationalisieren, wie andere Branchen es vielleicht können. Viele Arbeitsgänge in der Stickerei sind auch heute noch weitgehend Handarbeiten, wie denn überhaupt das Handwerkliche in dieser Industrie noch weitgehend hervorsticht.

Es gibt in Vorarlberg eine Stickereifachschule, die die Kunst der Herstellung von Stickereien lehrt, und das Vorarlberger Stickereizentrum ist im Werden, in dem dann vor allem die Berufsausbildung der kommenden Stickereifachleute ihren Sitz haben wird. In der Stickereiindustrie Handwerk und Kunst sowie Fleiß und Unternehmerinitiative zu vereinigen, ist das Ziel, das sich alle Verantwortlichen gesetzt haben. Modische Aufgeschlossenheit mit Tradition zu verbinden — immer up to date sein, und doch nicht den Boden unter den Füßen verlieren — das müssen die Sticker können! Und ob sie nun draußen in aller Welt ihre Kollektionen vorführen, oder hier den Kunden aus aller Welt die neuesten Kreationen zeigen — immer bleibt die Vorarlberger Stickereündustrie eine sehr selbstbewußte und sehr eigenwillige Industrie — geprägt von 100 Betrieben, die fest in der Tradition wurzeln, aber doch ganz der Zukunft und dem Neuen leben.

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