Wenn der Markt an Moralgrenzen stößt

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Der Philosoph Michael J. Sandel versucht seine Leser mit Fragen nach den moralischen Fundamenten der Gesellschaft aufzurütteln. Er nimmt dazu Adam Smith und Aristoteles zu Hilfe. Mit großem Erfolg.

Er steht lange im Hintergrund der Bühne in einem der berühmtesten Prachtbauten der Wiener Ringstraße, dem Museum für Angewandte Kunst, und lässt die Ovationen ohne Regung über sich ergehen. Die zweistöckige Säulenhalle ist bis auf den letzten Thonet-Sessel gefüllt.

Ohne Zweifel: Michael Sandel ist ein Star der Ökonomie und einer der Massen. 14.000 strömten zu einer Open Air-Vorlesung in Seoul, 30.000 in China. Der Andrang zu seinen Vorlesungen an der Harvard Universität ist so groß, dass die Plätze per Los vergeben werden müssen. Sandel ist ein "moralischer Rockstar“ - so jedenfalls stilisieren ihn US-Medien.

Mit leiser Stimme, eindringlich aber unprätentiös, beginnt Sandel zu sprechen. Er zieht die Zuhörer in seine Geschichten hinein, Geschichten von einfachen Menschen, Beispiele, die die großen moralischen Fragen ansprechen: Etwa jene über eine Leihmutter, die Geld für das Austragen eines Kindes bekommt. Nach neun Monaten will sie es aber behalten. Hat sie das Recht dazu?

Fragen, nicht Antworten

Sandels Rezept: Er stellt Fragen, aber er gibt kaum Antworten: In welchen Fällen dient der Markt dem Gemeinwohl und in welchen beschädigt er Werte? Warum entscheidet über die Zulassung zu einer Universität idealerweise nicht das angebotene Geld, sondern die Eignung. Warum wird in der Notfallambulanz nicht nach Einkommen, sondern nach Dringlichkeit entschieden?

Sandel will mit diesen Fragen, dass die Zuhörer selbst urteilen, statt in moralische Enthaltsamkeit zu flüchten. Tatsächlich weist er mit solchen Fragen darauf hin, dass dies alles längst käuflich ist. In seinem letzten Buch: "Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralichen Grenzen des Marktes“ nennt er Fälle von Ärzten, die für viel Geld garantierte Sofortbehandlung anbieten. Er kritisiert scharf das Vordringen der Märkte in Bereiche des menschlichen Körpers (eine Niere für ein I-Phone) bis zu den gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen.

Wie schon Karl Marx in der berühmten Schrift vom Fetischcharakter der Ware zeigt Sandel auf, wie die Logik des Kaufens und Verkaufens nicht mehr nur für materielle Güter gilt, sondern zunehmend auch das Leben insgesamt lenkt. Wie wir von einer Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft geschlittert sind, in der die sozialen Beziehungen ein Spiegel der Märkte werden und die Ökonomie die Ethik des menschlichen Verhaltens ersetzt.

Sandel geht es dabei nicht nur um Fairness oder Gerechtigkeit, sondern um die Gemeinsamkeit der Bürger in einer Gesellschaft. Wenn alles käuflich ist, der Zugang zu Bildung, Gesundheit, Wasser, das Wohnen in einer guten Gegend mit weniger Gewalt, dann steht am Ende die Apartheit von Reich und Arm, die Agonie des Sozialwesens. Die Reichen wohnen hinter bewachten Stacheldrähten, die Armen in Ghettos mit schlechten Schulen.

Eine solche Gesellschaft beraubt auch die Reichen ihrer Freiheit, zum Beispiel sich frei und ohne Angst bewegen zu können. Oder wie es Adorno ausdrücken würde: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Sandel stellt die Frage: Wieviel Ungleichheit verträgt eine demokratische Gesellschaft. Dabei geht es ihm keinesfalls um die Gleichheit der Einkommen, sondern um den Zugang zu den wichtigen Dingen des Lebens wie Bildung, Gesundheit, Wohnen, Wasser etc.

Zurück zu den Wurzeln

Sandel will, dass sich die Ökonomie wieder an ihre Herkunft aus der Moralphilosphie besinnt. Denn auch wenn viele Marktgläubige den Begründer der Nationalökonomie, Adam Smith, als Urvater eines radikal darwinistischen Marktverständnisses sehen wollen, so wird gerne übersehen, dass der berühmte, schottische Moralphilosoph in seiner "Theorie der ethischen Gefühle“ davon gesprochen hat, dass Handeln nach den höchsten Maßstäben nicht an der Selbstsucht, sondern an den Tugenden orientiert ist, wobei die Gerechtigkeit die wichtigste unter ihnen ist.

Wie Adam Smith möchte Sandel Markt und Moral zusammenführen. Denn, so Sandel, "der Glaube, dass der Markt von selbst für das Allgemeinwohl sorge, von selbst Fairness und Gerechtigkeit hervorbringt, ist erschüttert.“ Ein konservativer Philosoph, der für das Gemeinwohl eintritt und den Staat zum Handeln legitimiert, macht sich weder bei den Republikanern - bei denen Steuern Diebstahl bedeutet -, noch bei den marktkonformen Ökonomen beliebt. Bereits 1997 hat er die Wut von Ökonomen entfacht, als er das Kyoto-Protokoll zur Klima-Erwärmung kritisierte: Das moralische Stigma schlechten Handelns werde dabei in das handelbare Recht zum Verschmutzen verwandelt. Die Ökonomen beschimpften ihn, dass er nicht verstanden habe, wie Märkte arbeiten. Sandel antwortete mit einem Zitat von Oskar Wilde, dass sie den Preis von allem wüssten, aber den Wert von nichts.

Auch wenn Sandel zögert, zu seiner großen Popularität Stellung zu nehmen, gibt er dann dennoch eine Antwort: "Es gibt einen gro-ßen Hunger, sich in den großen Fragen zu engagieren, die uns alle angehen. Auf der ganzen Welt spüre ich diesen Frust über die Abwesenheit von Diskussionen und Fragen über Gerechtigkeit, Ethik und Werte.“ Die Sprache der Werte wird in den USA von den rechten Christen monopolisiert, weltweit von der Religion. "Wir wollen moralische Fragen aus dem öffentlichen Leben heraushalten“, sagt Sandel. "Die Fragen, was uns als Gesellschaft wichtig ist, welche öffentlichen Güter wir dem Markt und der Effizienz unterwerfen wollen, werden nicht diskutiert. Das hat den politischen Diskurs ausgehöhlt.“ Sandel (der auf Einladung des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen in Wien war) sieht darin einen Grund für die Unzufriedenheit der Bürger mit der Politik und der Demokratie.

Die Autorin ist ehemalige Wirtschaftsjournalistin des ORF

Was man für Geld nicht kaufen kann

Die moralischen Grenzen des Marktes,

Von Michael J. Sandel, Ullstein-Verlag 2012.

304 Seiten, Hardcover, e 19,99

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