Beschämt durch Dankbarkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Jeder Abgeordnete kennt die Kategorie der Stammgäste, die immer wieder sein Büro im Wahlkreis besuchen - von Weltverbesserern über Alkoholiker aus Justiz oder Verwaltung bis zum tatsächlich schlecht behandelten Unglücklichen: die ganze Bandbreite an Menschenschicksalen. In meinem Büro begegnet die Leiterin, Frau Alexandra, allen mit gutem Tee und unendlicher Geduld im Gespräch.

Ein Obdachloser ist ihr besonders aufgefallen - weder Alkoholiker noch Drogenabhängiger, immer höflich, doch sonderbar. Seine Geschichte war einfach traurig. Die Mutter hatte sehr unter politischer Verfolgung gelitten - sie wurde nach einem absurden Verfahren, wegen eines angeblich geplanten Chruschtschow-Attentats, festgenommen. Ob ihr Sohn, Herr R., schon mit einer Störung geboren wurde oder diese erst später auftrat, weiß ich nicht. Die Eltern kümmerten sich jedenfalls sehr um ihn. Doch nach dem frühen Tod seiner Eltern hat R. - beim Notar - seine schöne Wohnung einem skrupellosen Fremden praktisch geschenkt; als Gegenleistung bekam er ein tolles Handy …

Unsere Bemühungen, diese Schenkung rückgängig zu machen, scheiterten - seine Mündigkeit war nie eingeschränkt worden. Nach einem langen Papierkrieg gelang es ihm, sich eine winzig kleine Rente und ein Zimmer im Sozialzentrum zu sichern. Den Rest verdiente er bei Gelegenheitsjobs. Jetzt arbeitet er legal und Gott sei Dank mit EU-Krankenversicherung in Holland und teilt sich eine Wohnung mit drei anderen Arbeitern. Seine Anrufe und Weihnachtsgrüße kommen immer pünktlich. Vor zwei Jahren, noch in Polen, hat er angefangen, kostenlosen Deutschunterricht (sein Deutsch ist tadellos) im Zentrum für Kinder aus sozial schwachen Familien zu geben. Aus Dankbarkeit, sagte man mir: "Ich habe doch so viel Gutes in meinem Leben erfahren …" Ich fühle mich beschämt.

Die Autorin war polnische Botschafterin in Österreich

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung