"Die EU allein im Hirn ist zuwenig"

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Jean-Luc Dehaene, der frühere belgische Ministerpräsident und EU-Abgeordnete, über das europäische Paradoxon und dessen Lösung.

Die Furche: Herr Dehaene, in Salzburg wurde letztes Wochenende dem "Sound of Europe" nachgespürt - wie klingt das derzeitige Europa für Sie?

Jean-Luc Dehaene: In den 1950er-und 1960er-Jahren, in denen wir mit der Europäischen Gemeinschaft begonnen haben, waren die Menschen emotional an diesem Projekt beteiligt. Sie haben die europäische Einigung als Antwort auf die vorangegangenen Kriege gesehen. Heute ist die eu, wenn überhaupt, nur mehr in den Gehirnen und nicht mehr in den Herzen - und das ist zuwenig.

Die Furche: Wie lässt sich mehr Gefühl in die eu-Debatte bringen?

Dehaene: Es ist eine paradoxe Situation: Einerseits wird der eu die Schuld an den mit der Globalisierung einhergehenden Problemen gegeben - und ein Zurück zu den nationalen Antworten gefordert; andererseits sehen auch die Bürgerinnen und Bürger, dass die nationale Ebene die anstehenden Aufgaben nicht bewältigen kann. Aus diesem Paradox kommen wir nur raus, wenn es uns gelingt, die Bürger zu überzeugen, dass die eu nicht Teil des Problems, sondern die Lösung desselben ist.

Die Furche: Die Strukturen dazu hätte die eu-Verfassung liefern sollen - Sie waren Vizepräsident des eu-Konvents, wie soll wieder Bewegung in die Verfassungsdebatte kommen?

Dehaene: Noch ist es zu früh, konkrete Initiativen zu starten. Was nicht heißt, dass wir nicht die Reflexions-und Nachdenkpause wirklich nützen sollen. Aber realistischerweise ist vor den nächsten Wahlen in den Niederlanden 2007 keine konkrete Vorgehensweise beschließbar. Die holländische Regierung ist noch total gelähmt: Das Warum der Ablehnung ist genauso wenig geklärt wie eine mögliche Auswegstrategie - deswegen beschränkt man sich einstweilen auf das Nein.

Die Furche: Ist es realistisch zu glauben, dass eine neue Debatte, vielleicht ein neuer Konvent einen besseren Verfassungstext hervorbringen kann?

Dehaene: Wenn eine neue Debatte um den Verfassungstext eröffnet wird, bin ich mir sicher, dass der Kompromiss ein schlechterer sein wird, als der, den wir im Konvent gefunden haben. Wer den Konvent zur Europäischen Verfassung verfolgt hat, weiß, wie groß die Gefahr eines Scheiterns jederzeit gewesen ist. Das Ergebnis ist das bestmögliche Ergebnis, es wird auf absehbare Zeit keine bessere Verfassung als die geben, die wir jetzt haben.

Die Furche: In einem Gespräch mit der Furche während des Konvents haben Sie gesagt, beim Scheitern der Verfassung wird es zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten kommen.

Dehaene: Davon bin ich mehr denn je überzeugt: Es wird zu einer Differenzierung innerhalb der eu kommen. Wenn wir in drei, vier Jahren keine Verfassung haben, wird die eine oder andere Gruppe von Nationalstaaten Initiativen starten: im Bereich innere Sicherheit, im Justizbereich, in der Verteidigung, in der Außenpolitik ... Das ist ja nichts Neues, denken Sie an Schengen oder die Eurozone.

Die Furche: Und welche Auswirkungen hat die fehlende Verfassung auf die kommenden Erweiterungsrunden?

Dehaene: Ohne innere Reformen in der eu mit den Erweiterungen fortzusetzen, halte ich für einen großen Unsinn. Wir können jetzt nicht so weitermachen, als wäre nichts passiert.

Die Furche: Gilt das auch für den Streit um das eu-Budget?

Dehaene: Die finanzielle Vorausschau für die nächsten sieben Jahre ist der Schlüssel dafür, dass die Erweiterung ein Erfolg wird. Die neuen Länder müssen wissen, was sie aus Brüssel bekommen.

Die Furche: In den alten eu-Ländern wird hingegen darüber geklagt, was nach Brüssel gezahlt wird.

Dehaene: Deswegen bin ich froh, dass Ihr Bundeskanzler eine Debatte über die eu-Eigenmittel angestoßen hat. Wie war es früher? Die Haupteinnahmequelle der eg waren Zollrechte. Dahin müssen wir zurück: Es braucht wieder Mittel, die direkt an die eu fließen.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

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