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Des langen Hadems müde

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„Persönliche Gründe verursachten meinen Rücktritt, mehr kann ich nicht sagen“ — erklärte Ministerpräsident David Ben Gurion uns Journalisten, die wir nach der wöchentlichen Kabinett-sitzunig vor der Tür der Kanzlei Ben Gurions warteten. Er zeigte ein vielsagendes Lächeln, und mit der für ihn so bekannten Jugendfrische stieg er in das wartende Auto. Im Auto änderte sich sein Gesichtsausdrück. Ein alter, 77jähriger vergrämter Mann verließ den Platz.

Erstaunen und Angst

Dies war der dramatischeste Rücktritt, den der junge Staat Israel jemals erlebt hat. Nur 10 Minuten vor der Kabinettsitzung teilte Ministerpräsident Ben Gurion den Ministern seiner Partei Mapei seinen Beschluß mit. Die Minister der anderen Koalitionsparteien erfuhren von Ben Gurion diese Nachricht erst am Ende einer ziemlich

stürmischen Regierungssitzung, die mit dem Rücktritt nichts zu tun hatte.

Die Nachricht, die in eingeweihten Kreisen schon seit längerer Zeit erwartet wurde, verbreitete sich im Land wie ein Lauffeuer. Sie löste bei der Bevölkerung Erstaunen und Angst aus, denn Ben Gurion ist in den Augen der meisten der „starke Mann der Regierung“. Der Regierungspartei nahestehende Persönlichkeiten nahmen den plötzlichen Rücktritt des greisen Regierungschefs mit größter Bestürzung auf, denn sein „Erbe“ kann nicht so ohne weiteres verteilt werden. Ben Gurion war nicht nur Ministerpräsident, sondern fungierte auch als Sicherheitsminister. Bekanntlich befindet sich Israel immer noch im Kriegszustand mit den arabischen Nachbarländern, und das Sicherheitsministerium bedeutet, die wahre Macht über Volk und Wirtschaft in der Hand zu haben und sie auch auszuüben.

Nassers Raketen drohen

Vor seinem Rücktritt erlebte Ministerpräsident Ben Gurion eine nie gekannte scharfe Pressekampagne, die gegen ihn persönlich geführt wurde. Die Attacken gegen Ben Gurion erreichten ihren Höhepunkt bei dem Prozeß in Basel, in dem die „Israel-Agenten“ Joseph Ben Gal und Dr. Otto Joklik bezichtigt wurden, ungesetzlichen Druck auf Heidi Goerke, der Tochter des deutschen Raketenspezialisten Professor Goerke, ausgeübt zu haben. Die beiden wollten die Rückkehr Professor Goer-kes von Ägypten erzwingen, wo er bekanntlich an der Errichtung einer Raketenindustrie tätig ist.

Während dieses Prozesses bewiesen die Angeklagten an Hand von Beweismaterial, daß Ägypten Kobalt und anderes radioaktives „Abfallmaterial“ aufkauft, um damit ihre Raketen, die gegen Israel gerichtet sind, zu beladen.

Zu deutschfreundlich?

Die Schweizer Richter betonten in ihrem Urteil die Gefahr, die Israel von Ägypten drohe, insbesondere da die im Prozeß angegebene Kobaltmenge genügen könne, die Atmosphäre des ganzen Staates Israel für über ein Jahr zu vergiften und so die ganze Bevölkerung zu töten.

Die Kreise des israelischen Sicherheitsministeriums erklärten kurze Zeit darauf, daß Ägypten keine derartigen unkonventionellen Waffen besitze und die Gefahr aus Ägypten hauptsächlich in deren konventionellen Waffen besteht. Israels Presse war über diese Erklärung erschüttert. Man bezichtigte Ben Gurion, diese Erklärung abgegeben

zu haben, um in innerpolitischen Angelegenheiten zu beweisen, daß seine Konzeption der Bundesrepublik gegenüber die richtige war.

Israels Parlament, die Knesseth, hatte einige Wochen vorher eine scharfe Resolution gegen die deutschen Raketenspezialisten, die in der ägyptischen Rüstungsindustrie beschäftigt sind, gefaßt. Dieselbe Resolution wandte sich auch schärfstens geigen die Deutsche Bundesrepublik und forderte sofortige Zurückberufung der deutschen Spezialisten aus Ägypten. Diese Resolution wurde von einer scharfen Kampagne der israelischen Regierung unterstützt. Ben Gurion beteiligte sich nicht persönlich an der Resolution und brach nach kurzer Zeit die Kampagne ab. Er behauptete schon damals, daß die Informationen, die über Ägyptens Rüstungsindustrie in Israel veröffentlicht wurden, übertrieben waren. Durch diese Behauptung wurde der Chef der israelischen Geheimdienste, der für die antideutsche Kampagne verantwortlich war, moralisch gezwungen, zu demissionieren. Die Gegner Ben Gurions konnten ihm schon den Rücktritt des Chefs der Geheimdienste nicht verzeihen. Sie behaupteten, daß dieser einem Ben Gurion und insbesondere dem Vizesicherheitsminister Schimon Peres mehr hörigen Mann Platz machen soll. Nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch die religiös-nationalen und sozialistischen Achduth-Awoda-Koalitionsparteien sowie ein Teil der Mapei-Minister widersetzten sich der Stellungnahme Ben Gurions. Es wurde eine besondere Ministerkommission er-

nannt, um diese Angelenheiten, in denen Ben Gurion verwickelt war, zu prüfen und klarzustellen. Im Kabinett stellten sich nur drei Minister ausschließlich auf Ben Gurions Semite. Ben Gurion wurde in dieser Minister-Untersuchungskommission völlig isoliert. Die ausschlaggebende Sitzung dieser Kom-

mission sollte kurz nach der Kabinettssitzung, in der Ben Gurion seinen Rücktritt erklärte, abgehalten werden.

Ben Gurion war auch in anderen, ihm sehr naheliegenden Angelegenheiten isoliert. Er begann eine persönliche Kampagne gegen die zweitgrößte und Oppositionspartei Cheruth. Diese rechtsradikale Partei ist gegen die guten Beziehungen mit der Deutschen Bundesrepublik, widersetzte sich auf das heftigste gegen den Besuch des ehemaligen Bundeswehrministers Franz Josef Strauß in Israel und attackierte Ben Gurion in vielen anderen Angelegenheiten. Ministerpräsident Ben Gurion hatte kürzlich an Hand von über 30 Jahre alten Zeitungsausschnitten behauptet, daß diese Partei faschistisch sei. Seine Gegner beschuldigten ihn, daß er diese Behauptungen nur aufgestellt hätte, um seinen Freunden in Deutschland zu beweisen, daß die „guten Israelis“ deutschfreundlich gesinnt sind und nur die „bösen Faschisten“ und Kommunisten antideutsche Gefühle zeigen. Nicht nur die Koalitions- und Oppositionspar-

teien, sondern auch seine eigene Partei distanzierte sich in diesem Fall von Ben Gurions Attacken. Er versuchte noch, in persönlichen Briefen und Gesprächen seine Freunde von seiner Einstellung zu überzeugen, aber vergebens. Sogar ihm nahestehende Persönlichkeiten beschuldigten Ben Gurion, unnütz das Volk zu spalten. Eine Beschuldigung, die Ben Gurion nicht überwinden konnte.

Der Weg nach Sdeh Boker

Der Rücktritt Ben Gurions kam so plötzlich, daß er sofort von der unabhängigen Presse beschuldigt wurde, mit Ach und Krach seine sämtlichen Ämter dem Volk ins Gesicht geschmissen zu haben. Sogar die ihm nahestehende Abendzeitung „Jedioth Achronoth“ schrieb: „Es tut uns leid, daß das Ende einer großen Karriere so aussieht... Das Ende hätte anders sein können — schöner, angenehmer, erhebender.“ Denn Ben Gurion legte nicht nur seine Funktionen als Ministerpräsident und Sicherheitsminister nieder, sondern gab auch sein Mandat als Knessethmitglied seiner Partei zurück.

Die Freunde Ben Gurions betonen, daß sein Gesundheitszustand in den letzten Wochen sehr nachgelassen habe und er eigentlich schon vor längerer Zeit zurücktreten wollte. Doch wichtige Regierungsangelegenheiten hätten bis jetzt diesen Rücktritt verzögert. Hier sei nun zu betonen, daß diese Regierungsangelegenheiten auch weiter bestehen und fast die ganze israelische Presse den Rücktritt Ben Gurions gutheißt und nicht einmal den Versuch macht, den „Alten“ dazu zu bewegen, seinen dramatischen Rücktritt rückgängig zu machen. Selbst seine eigenen Parteigenossen machten nur einen ganz vagen Versuch, ihn umzustimmen. Ben Gurion gab seinem Wunsch Ausdruck, sich in Zukunft der Geschichtsschreibung zu widmen, aktiv an der Vereinigung der drei Arbeiterparteien Israels mitzuarbeiten und sich im allgemeinen nach Sdeh Boker, einem landwirtschaftlichen Kibbuz im südlichen Negew, dem Ben Gurion offiziell angehört, zurückzuziehen. Als Ben Gurion im Jahr 1955 für ein Jahr aus der Regierung ausschied, beeinflußte er diese dennoch entscheidend von Sdeh

Boker aus. Er war damals ein gewöhnliches Kibbuzmitglied, das die Schafe hütete.

Nur eine Zwischenlösung

Vor seinem Rücktritt bat Ben Gurion seine Parteikollegen, keine Änderungen in der Koalition vorzunehmen, um dem Land unnötige Erschütterungen zu ersparen. Es ist anzunehmen, daß Finanzminister Levi Eschkol, der zweitstärkste Mann nach Ben Gurion, Ministerpräsident und auch Sicherheitsminister wird. Der zweite Wunsch Ben Gurions, den Vizesicherheitsminister Schimon Peres, der ihm am nächsten steht, als Sicherheitsminister zu sehen, wird zumindest in der ersten Zeit nicht berücksichtigt werden. Er wird weiter seinen jetzigen Posten beibehalten. Es ist jetzt schon klar, daß die Koalitionsparteien sowie die meisten Minister der Mapei nicht bereit sein werden, Schimon Peres als Sicherheitsminister zu akzeptieren. Der wahre Kampf um die Nachfolge Ben Gurions wird bis auf weiteres vertagt werden.

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