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Don Quichotte — Oberst Redl?

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„Ich glaube, all das, was ich geschrieben habe, hätte jeder andere, der in meiner Generation lebte, schreiben können, der dieses herrliche und verfluchte Land so wie Ich liebte. Ich richtete das Land und ein Bewohner. Ich richtete mich selbst, zu oft, doch nicht oft genug, so wie ich es hätte machen sollen, Doch wer hat das Recht, mich deswegen zu richten?“

Mit diesem Zitat von Nicolai Arzak, dem sowjetischen antistalini-stischen Schriftsteller, beginnt das Buch des verstorbenen Dr. Israel Beer, „Israels Sicherheit — gestern heute morgen“.

Dieses Buch wurde unter besonders großen Hindernissen verfaßt. Denn sein Verfasser war während der Niederschrift ein Häftling im israelischen Schatta-Gefängnis, in dem sich hauptsächlich abgeurteilte Spione und andere Häftlinge, die wegen Sicherheitsvergehen verurteilt wurden, befinden. Erst nachdem Ministerpräsident David Ben Gurion seinen Rücktritt (im Jahre 1?63) erklärte, erhielt Dr. Beer die Möglichkeit, sein Buch innerhalb der Gefängnismauern zu schreiben,'. die nötigen Unterlagen aus den verschiedenen Bibliotheken und Archiven zu erhalten und mit seinem Verleger in Verbindung zu treten.

Der Herausgeber mußte den Übersetzer — das Buch wurde ursprünglich in englischer Sprache verfaßt und kam zuerst in hebräischer Sprache heraus — wechseln, da sich der erste Übersetzer nicht traute, weiterzuarbeiten. In seinen Augen war das Material „haarsträubend“.

Dr. Israel Beer, der zu 16 Jahren Zuchthaus wegen Spionage verurteilt worden war, erlag, kurz nachdem er das Buch beendet hatte, einer Herzattacke, ohne die Herausgabe des Buches selbst noch erleben zu können. Der Leiter des israelischen Gefängnlswesens, Arie Wir, hatte sich während der Haftzeit mit seinem prominentesten Gefangenen angefreundet und erklärte mir nach Dr. Beer Tod: „Dr. Beer wußte, daß er herzkrank war. Er schrieb mit dem Tod um die Wette, denn dieses Buch war für Ihn die einzige Möglichkeit einer Rehabilitierung, und er sah in der Niederschrift seine letzte Lebensmission. Er schrieb Tag und Nacht und ruhte nur wenige Stunden, um dann mit neuem Eifer fortzufahren.“

Der waffenklirrende Friede

Dieser Tage, nach dem Erscheinen des Buches, begann erneut in der ganzen israelischen Presse eine Auseinandersetzung mit dem toten Verfasser, wobei zu betonen ist, daß sich die Presse fast ausschließlich mit dem Vorwort befaßte, während keine wichtigere Tages- oder Wochenzeitung bereit war, eine Buchkritik zu verfassen, dehn in den Augen der meisten Israelis bleibt Israel Beer ein Meisterspion, der bis zu den höchsten Sicherheitsgremien vordringen konnte und Israels Militärgeheimnisse an dessen Gegner verriet.

Doch es wäre zu leicht, sich auf diese Art und Weise einer Pflicht zur Analyse eines solchen Werkes zu entziehen: Denn das Grundproblem, das der Verfasser im Auge hatte, ist heute auch das Grundproblem jedes emst denkenden Israeli: Wird es eine Zerstörung des Dritten Tempels geben, oder, wie es die arabischen Führer formulieren, ist Israel nichts weiter als ein zweiter, dem Untergang geweihter Kreuzfahrerstaat? Bisher war die einzige Antwort der israelischen Führer auf diese Frage die Erhaltung eines waffeniklirren-den Friedens, der immer wieder durch kleinere und größere Grenzkonflikte gestört wird. Gerade jetzt, bei den Federn zu David Ben Gurions 80. Geburtstag, wurde das Problem aufs neue aktuell, und man fragt sich, ob Ben Gurions politischer Weg der richtige war.

Doch das Problem Israel Beer ist ein viel komplizierteres, angefangen bei seiner Persönlichkeit.

Der Intimus Ben Gurions

“ Dr. Israel Beer kam 1939 ins Land, das damalige Palästina, immatrikulierte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und trat kurz nach seiner Einwanderung der jüdischen Untergrundbewegung und Selbstverteidigungsorganisation — der Haganah — bei. Er erklärte den Haganah-Kommandeuren, daß er Frontkämpfer im spanischen Bürgerkrieg gewesen sei und als Bataillonskommandant in der deutschen Thaelmann-Brigade gedient habe. Er verfügte über großes strategisches Wissen, war zu komplizierten militärischen Analysen fähig und wurde schnell als Stabsoffizier in den Stab der Haganah aufgenommen. Zur Zeit der deutschen Invasion in Nordafrika arbeitete Dr. Israel Beer mit anderen Offizieren einen Verteidigungsplan der jüdischen Bevölkerung in Palästina nach Abzug der englischen Streitkräfte aus. Obwohl es niemals so weit kam, galt der Plan Dr. Beers als ein militärisches Glanzstück. Dr. Beer war während des Befreiungskrieges Operationschef des Palmach-Stabes, einer besonderen Kommandotruppe, die das Rückgrat der Haganahkräfte bildete und führend an allen Kriegsschauplätzen in dem damaligen Palästina und späteren Israel beteiligt war.

Als Ministerpräsident David Ben Gurion kurz vor Ende des Befreiungskrieges die Sondereinheiten — den Palmach — wegen der linken Anstellung seiner Kommandeure auflöste, war auch Israel Beer unter den Entlassenen.

Doch schon einige Jahre später konnte sich Dr. Israel Beer erneut die Gunst des Ministerpräsidenten und Sicherheitsministers David Ben Gurion erwerben. Zum Verdruß der Ben Gurion Nahestehenden wurde er zum außerordentlichen Militärberater des Sicherheitsministers ernannt. Alle wichtigen strategischen und taktischen Pläne besprach Ben Gurion mit Beer. Sein offizieller Auftrag war die Verfassung einer militärischen Geschichte des jüdischen Befreiungskrieges, doch nach Anschauung aller war er viel mehr als nur Militärhistoriker, und Ben Gurion war nicht bereit, irgendeinen Plan zu akzeptieren, ohne vorher bei Beer Rückfrage zu halten.

Dr. Israel Beer war auch in Westeuropa und in verschiedenen anderen NATO-Staaten ein viel und gern gesehener Gast. Alle Türen wurden ihm geöffnet, denn man sah in ihm den Vertreter des prowestlichen Israel, das nur wegen besonderer politischer Umstände nicht offizielles NATO-Mitglied ist.

Zwischen Osterreich und Spanien

Als Dr. Beer wegen Hochverrates festgenommen wurde, begann sofort eine Diskussion über seine Identität. Es ist bis heute nicht einmal sicher, ob Israel Beer ein Autodidakt in militärischen Angelegenheiten war — oder wirklich ein Spanienkämpfer.

Dr. Israel Beer war hochgewachsen, fast kahlköpfig, ein Mann mit viel Humor, dessen Wiener Abstammung man auch an seinem — schlechten — Hebräisch sofort erkannte. Oft, wenn ich mich mit ihm in seinem Hause unterhielt, traf ich dort die höchstgestellten Persönlichkeiten Israels. Er führte ein offenes Haus, hatte viele Freunde, und man war gern bei ihm zu Gast, Gespräche mit Ihm waren immer Interessant, er hatte originelle Ansichten und wer ein großartiger Geschichtenerzähler. Auch wenn es zutreffen sollte, daß er gar kein Spanienkämpfer war — seine Memoiren aus dem apanischen Bürgerkrieg klangen jedenfalls interessanter als die Schilderungen Hemingways, Mal-rauxs und anderer Verfasser.

Bei seinem Prozeß wurde behauptet, daß Israel Beer die Spanienepisode nur erfunden hätte, um auf diese Art Eingang in den Offlziers-stab der Haganah zu erlangen. Deshalb begann Israel Beer sein Buch mit einem ausführlichen Vorwort, In dem er seinen Lebenslauf beschrieb und sich selbst eines angeblichen Mordes bezichtigte, indem er nämlich behauptete, einen Doppelgänger in Wien umgebracht zu haben, der während seiner Spanienzeit mit seinen Papieren in Wien gesessen sei und auch Zeitungsartikel für die zionistische Wiener Presse verfaßt habe. Wie wahr diese Geschichte ist, kann nach Israel Beers Tod nicht mehr nachgeprüft werden.

Er schrieb: „Ich entstammte einer assimilierten jüdischen Familie in Wien, lernte am ersten Realgymnasium (Ftubenibasted) und besuchte später das Reinhardt-Seminar. Eigentlich wollte ich Schriftsteller und Regisseur werden...“

Laut Autobiographie war Beer Mitglied des Schutzbundes, beteiligte sich an dem Kampf gegen Dollfuß in Wien, kämpfte auf Seiten des republikanischen Spanien, kehrte nach Wien zurück, sollte dann nach Moskau gehen, um auf der dortigen Offiziersakademie zu studieren, wurde aber Zionist und wanderte nach dem damaligen Palästina aus, wo er der eifrigste Verfechter der Loslösung Israels von einseitiger westlicher Bindung und von seiner Neutralität wurde.

Varus, Varus...

Zur Zeit der Festnahme Israel Beers befand sich Ben Gurion In einer schwierigen politischen Lage. Beer unterstützte ihn damals bei seinem Machtkampf innerhalb seiner Partei, der Mapei, und auch im Kampf gegen die anderen Parteien, die gemeinsam Ben Gurions demokratische (also inoffizielle) Diktatur stürzen wollten. Als Ben Gurion von der Verhaftung Dr. Beers hörte, brach er in Tränen aus und sagte: „Ich wurde mit Lügen eingesponnen.“ Seit dieser Zeit kam der Name Dr. Israel Beers nie mehr über die Lippen David Ben Gurions. Beer schreibt dazu: „Meine Affäre lieferte den Anti-Bengurionisten die beste Waffe. Anstatt den Beweggründen meiner Verbrechen auf den Grund zu gehen, diente meine Affäre dazu, Ben Gurion zu bekämpfen.“

Beers neue Konzeption

Dr. Beer forderte völliges Umdenken und neue Konzeptionen, und dies ist seiner Ansicht nach auch das Gemeinsame mit dem wirklichen neuen Deutschland. Die jüdische Revolution, wie sie 1948 durch die Staatsgründung Israels zum Ausdruck kam, ist in den letzten 18 Jahren in Regression begriffen.

Nur eine echte neutrale Politik, die unabhängig vom Westblock und vom Ostblock bleibt, oder beide Blocks gleichmäßig berücksichtigt, kann Israel zum Frieden verhelfen. Doktor Beer beschuldigt Ben Gurion und seine Nachfolger, die in den Fußstapfen seiner Politik wandeln, sie hätten sich an die Vorstellung gewöhnt, daß Israel mit Hilfe des Militärs sich ewig gegen die arabischen Staaten behaupten könne.

Dr. Beer betont, daß ein bewaffneter Friede niemals eine Lösung bringen könne. Obwohl er sein Buch vor der jetzigen Israelischen Wirtschaftskrise vollendete, deutet er auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Israels hin und beschuldigt die israelischen Staatsführer der Trägheit des Denkens. Die Wirtschaft Israels, so Dr. Beer, lebe von „Schnorren, Subventionen und Wiedergutmachungsgeldern, deren Quelle bereits versiegt ist.“ Doch auf die Dauer könne man diese Wirtschaft nur stabilisieren, wenn man nicht die Absatzmärkte in der EWG suche, sondern den wahren Absatzmarkt Israels im Mittleren Osten sehe.

Der Verfasser spricht in seinem Buch von Israels naher Vergangenheit und seinen politischen Fehlern. Er erwartet auch, daß wahre Neutralität zu einem jüdisch-arabischen Frieden führen müsse und deutet an, daß Ägypten sowie Syrien vom Ostblock sehr stark beeinflußt sind, ob aber eine solche Neutralität einen solchen sofortigen Frieden wirklich herbeiführen kann?

Die Kritik in Israel schweigt das Buch tot, aber die Verkaufszahlen zeigen, daß der verstorbene Verfasser zu einem „Bestsellerautor“ wurde. Denn heute suchen die israelischen Intellektuellen eine neue Lösung, da man im allgemeinen das Gefühl hat, das polltische Schiff Israels habe sich verfahren. Aber wie das Schiff in einen sicheren Hafen gelotst werden könnte, fragt sich jeder, und man sucht die Antwort, wo immer man sie zu finden glaubt. Selbst aus der Feder eines Mannes, der in westlichen Augen ein Hochverräter ist und von den Anhängern eines kommunistischen Regimes als Nationalheld gepriesen werden müßte..

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