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Der alte Mann und die jungen Löwen

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IN HAIFA ERZÄHLT MAN: Zwei Knesset-Abgeordnete übernachten in einem Hotelzimmer. Sie gehören feindlichen Parteien an, und der eine sagt: „Mach das Fenster auf!" Der andere: „Mach das Fenster zu!“ Sie rufen den Portier. Der sagt nur: „Im Fenster sind keine Scheiben!“

Ich hörte das als Antwort auf meine Frage nach der Affäre Lavon—Ben Gurion. Der Wind und der Regen kommen beim Fenster herein, in dem noch keine Scheiben sind. Man muß öfter seinen Rücken gegen den Fensterrahmen stemmen, damit die Windstöße das neue Zimmer nicht zerstören. Aber ein innerpolitischer, ein innerparteilicher Streit schneidet tief in die israelische Politik ein.

Fünfhundert Kilometer im Norden beraten die Außenminister der arabischen Staaten, wie der Krieg gegen Israel weitergeführt werden könne, ohne daß eine arabische Armee strapaziert werden muß.

Die ägyptischen Arsenale werden nach einer kurzen Pause wieder von neuen Ostblockwaffen überschwemmt und die westlichen Rüstungsfirmen lassen sich nicht lumpen.

Afrikanische Staaten, die bisher sichere Bundesgenossen waren, unterschreiben auf Geheiß Nassers kriegerische Resolutionen gegen Israel.

Eine neue Welle der Emigration kommt aus Marokko über Israel und überfordert fast die wirtschaftliche, moralische und soziale Aufnahms- fähigkeit.

Täglich kommen neue Windstöße durchs Fenster, tauchen neue Probleme auf. Naeh seinen Problemen zu schließen, besteht Israel nicht zwölf Jahre, sondern befindet sich noch in der stürmischen Entwicklung der ersten Jahre. In dieser Situation ist alle Aufmerksamkeit auf die politische Arena gerichtet, in der der „alte Mann“ Ben Gurion und der mächtige Gewerkschaftsführer Lavon zur Entscheidungsrunde angetreten sind.

Ich fuhr von Minister zu Minister. Keiner wollte davon sprechen. „Die Affäre Lavon schneidet zu tief in unser Fleisch ein“, argumentiert Israels Pressechef Länder (aus der Wiener Hakoah). Aber dann präzisieren er und Arbeitsminister Josephsthal doch: Es geht um „Demokratie oder die unkontrollierte Herrschaft der alten Apparate".

ISRAEL IST IN ZWEI TEILE GETEILT. Die Apparate verkörpern die Tradition der heroischen Zeit des Zionismus — und halten heute die wirtschaftliche und politische Macht in ihren Händen. Die anderen, außerhalb der Organisationen und Apparate, fühlen sich an die Wand gedrückt, sind politisch machtlos und wirtschaftlich administriert. Sie sind niemals zu Wort gekommen, aber sie haben jetzt Wortführer gefunden.

Der „alte Mann“ Ben Gurion ist selbst schon ein Denkmal aus der „heroischen Zeit“. Als Staatsführer ist er aber über den Zionismus, der sein Ziel erreicht hat und sehr ausgedient ist, und über alle Apparate hinausgewachsen: zusammen mit seinem Staat, den er vor der Erstarrung in den Händen der Traditionsapparate des Zionismus, durch die Gewerkschaften, die Kibbuzzim und die Parteien bewahren will. Unter seinem Schutz stehen die „Jungtürken“, Männer um den ehemaligen Stabschef Dayan.

Lavon, der Generalsekretär der Gewerkschaften, hat sich zum Wortführer der Apparate gemacht, als diese vor den Angriffen Ben Gurions und der Jungtürken in die Defensive gehen mußten. Das ist der Kern der Affäre Ben Gurion—Lavon. Alles andere, die problematischen Befehle von 1954, der Kampf um die Verantwortung Lavons, ist nur Verpackung. Aber aus der Verpackung ist schon der Inhalt zu erkennen.

LAVON WAR 1954 VERTEIDIGUNGSMINISTER GEWORDEN. Er war brennend ehrgeizig und wollte

beweisen, daß ein zionistischer Apparat- und Gewerkschaftsfunktionär den brillantesten und kühnsten Verteidigungsminister abgibt; besonders wenn der Funktionär Lavon heißt. Er gab Befehle zu abenteuerlichen Aktionen und kam sofort in Konflikt mit dem Generalstabschef, damals Mosche Dayan. Die Befehle wurden durchgeführt, sie kosteten Opfer, Prestige und einen ganzen Sektor des israelischen Geheimdienstes. Als dann die Frage der Verantwortung aufkam, wiesen die Offiziere auf Lavon. Der aber erklärte, daß die entscheidenden Befehle nicht von ihm ausgegangen seien, sondern von einem hohen Offizier des Geheimdienstes.

Eine Untersuchungskommission sollte Klarheit schaffen. Ben Gurion, die Armee und die Jungtürken forderten eine unabhängige Kommission. Lavon und die Apparate aller Parteien der Gewerkschaften und der Kibbuzzin drängen auf die Ernennung einer politischen, einer Regierungskommission. Ben Gurion erlebte seine erste Niederlage, eine Regierungskommission wurde ernannt. In dieser Kommission, die aus Vertretern aller Parteien der israelischen Regierungskoalition bestand, führten die Männer des Apparates und die Linkssozialisten das Wort. Ben Gurion erlitt seine zweite Niederlage, die Kommission entschied für Lavon — gegen Ben Gurion, die Armee und die Jungtürken. Sie wuschen den Gewerkschaftsführer rein und hefteten die Schuld dadurch an die Armee.

Nun riß Ben Gurion den Akt mitten durch. Arbeitsminister Josephs- tal berichtete: Ben Gurion faßt nun die Affäre Lavon als eine Existenzfrage der Demokratie und als eine Gewissensfrage aus. Denn die Ernennung von Politikern, die naturgemäß abhängig sein müssen, als Richter über eine Angelegenheit von Recht oder Unrecht, verletze den demokratischen Grundsatz von Politik und Gerichtsbarkeit und dadurch das Vertrauen in die Demokratie.

DER FREISPRUCH LAVONS bedeute gleichzeitig eine Verurteilung der Armee. Israel ist ein Staat, der noch im Kriegszustand lebt. Er könne es sich nicht leisten, daß die Armee, in der die Jugend zweieinhalb Jahre schwerer Dienstzeit verbringt und die morgen im Notstand das ganze Volk umfassen muß, durch einen politischen Richtspruch im Ansehen des Volkes geschwächt wird.

Soweit Josephstal über Ben Gurion. Das weitere ist bekannt. Ben Gurion loste die Regierung auf. Er will sich in seinen Rinderkibbuzz Zde Boker

zurückziehen. Und damit hat er das Gewissen in Israel wachgerufen und den Beton der Apparatesolidarität erschüttert.

„Der alte Mann ist böse geworden“, sagte mir Josephsthal, und ich hörte das in den folgenden Tagen dutzende Male. Und wenn der alte Mann böse ist, überlegt es sich sogar ein alter Apparateroutinier wie der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Almogi, noch weitere Schwierigkeiten zu machen. Und die Sache sieht plötzlich wieder besser aus für Ben Gurion, die Jungtürken und eine etwas autoritäre Demokratie, als für Lavon und die orthodoxen Apparatemanager der politischen und wirtschaftlichen Macht in Israel.

„WUNDERN SIE SICH, daß für uns die Affäre Lavon wichtiger ist als der Eichmann-Prozeß?“ fragte mich ein junger Offizier der israelischen Armee. „Der Eichmann-Prozeß ist Abrechnung mit der Vergangenheit. Der Fall Lavon bestimmt unsere Zukunft.“

Ich wundere mich nicht. Von allen Ländern, die ich kennenlernte, ist Israel das Land, das Zukunft und Jugend ganz groß schreibt. Für die Jugend Israels ist die Diaspora unver

ständlich. Sie schämt sich der Vorfahren, .die sich wehrlos unterdrücken und hinmorden ließen. Für die Jugend Israels sind die zionistischen Apparate Brücken zwischen der schmachvollen Zeit der „Zerstreuung“ und der von allen Minderwertigkeitsaspekten befreiten Gegenwart im eigenen Land. Die Brücken waren gut und notwendig, aber sie können jetzt langsam abmontiert werden. Die Auseinandersetzung zwischen dem alternden, aber machtbewußten Apparat der zionistischen Tradition und einer von Selbstbewußtsein zu sehr erfüllten Jugend ist unabwendbar — und der Ausgang steht schon fest. Die Affäre Lavon war nur ein Beginn.

HEUTE HABEN DIE APPARATE fast noch alles in den Händen: Von den Kibbuzzim aus beherrschen sie die Landwirtschaft. Über den gewerkschaftlichen Trust Solei Boneh beherrschen sie die Wirtschaft und das außenpolitisch wichtige Hilfsprogramm in Afrika. Die Gewerkschaften „Histadruth“ diktieren den Ablauf des Lebens, und die linkssozialistischen Parteien sind die „Wächter der großen Tradition“. Sicher: alle Apparate sind noch von gutem Willen erfüllt. Sie

wollen nichts anderes, als der Jugend das so schwer erkämpfte Land gut durchdacht, gut durchorganisiert übergeben. Aber der Jugend stellen sich die Haare auf, wenn vom „Zionismus“ gesprochen wird. Und sie hat nicht nur gute Bundesgenossen, Ben Gurion und die Jungtürken, sondern auch ein Machtinstrument: die Armee. Der Freispruch Lavons traf indirekt die Armee. Er hat die Jugend noch fester vom „alten Mann" überzeugt.

Ich kam nach Israel, um mit den „jungen Löwen“ zu sprechen, mit den Männern um Dayan. Aber einer der „jungen Löwen“ führte mich zum Übungsplatz der Armee und sagte: „Wir sind nicht mehr jung und wir waren nie Löwen. Hier sind die jungen Löwen, die du suchst!“

Die Armee ist zugleich das Machtinstrument und die Erziehungsanstalt der Jugend. Es gab keine Hautfarbe, die ich nicht unter den Tausenden sah, die auf dem Platz übten. Vom tiefsten Schwarz der „Afrikaner" bis zum alabasternen Weiß der „Nordischen“. Hier ist der große Schmelzkessel, aus dem eine israelische Nation wird, die heute noch keiner kennt. Der Name Lavon ist schon der Nam» eines Mannes der Vergangenheit. Der Name Eichmann hat hier eine historische Bedeutung, fast wie der Name Nero in Europa.

ABER EIN JUNGER SOLDAT führte mich an den Strand von Tel Aviv und sagte mir: „Wir sind morgen schon ausgedient. Das sind unsere jungen Löwen.“ Der große Park entlang der Küste war voll von Kindern, die nach halb orientalischen, halb slawischen Melodien Hora tanzten. Die Kinder sangen dazu: „Einen Baum pflanzte ich in meinem Garten. Und zur Erde spreche ich; du und wir, wir sind durch diese Pflanze ewig verbunden.“ Es war der Tag „Tubesch Schewat“, der 15. des Schewat, an dem nach alten Schriften die Bäume wieder zum Leben erwachen. Dann unterbrachen sie den Tanz, und jedem Kind wurde ein Topf mit einer kleinen Pflanze gegeben. Die Pflanze wird gepflegt, bis sie als Baum im nächsten Jahr bei Jerusalem eingesetzt wird.

Genau drei Stunden und zehn Minuten hatte die Boeing der SABENA von Wien nach Tel Aviv gebraucht. Und dann fuhr ich noch eine Stunde nach Jerusalem Etwas mehr als vier Stunden, und ich fuhr durch die Wälder, die seit zehn Jahren um Jerusalem gepflanzt werden. An einer Stelle ist die Straße 800 Meter von der Grenze entfernt.

Die Hügel auf der jordanischen Seite sind ganz kahl.

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