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Jurisprudenz?

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Diese Geschichte erzählt von einem Mann, der Zahnarzt ist. Er war es auch in den Jahren 1938 bis 1945, obwohl er nicht der Partei angehörte. Erst kurz vor Kriegsschluß ereignete es sich, daß er mit irgendeiner der zahlreichen „totalen" Vorschriften und heroischen Verpflichtungen in Konflikt geriet, nicht sehr, aber doch so, daß er zu 14 Tagen Haft verurteilt wurde. Die Befreiung Österreichs kam der Vollstreckung des Urteils zuvor; er brauchte die Strafe nicht mehr abzusitzen. Aber nun sieht dieser Zahnarzt sich einer Reihe von unvorhergesehenen Schwierigkeiten gegenüber-: Um eine Lizenz für seine Praxis zu erhalten, muß er frei von Vorstrafen sein. Um nicht vorbestraft zu sein, muß er die Strafe, die weder mit den österreichischen Gesetzen, noch mit den allgemein gangbaren Vorstellungen von Gerechtigkeit vereinbar ist, tilgen lassen. Eine Formalität. Man geht auf eine Behörde, tragt seinen Fall vor, macht eine Eingabe, bezahlt einige Stempelmarken und wartet dann, bis man die Erledigung der Angelegenheit zugeschickt bekommt oder wieder vör- geladen wird. Mein Bekannter wird wieder vorgeladen. Er bekommt den enttäuschenden Bescheid, daß die Strafe nicht getilgt werden kann, weil sie nur ausgesprochen, aber nicht verbüßt worden ist. Was, nun? Der Zahnarzt möchte praktizieren. Vielleicht wenn er jetzt nachträglich die seinerzeit verhängte Strafe absitzen würde? Aber das läßt die Gerechtigkeit nicht zu, denn die Haltlosigkeit des Urteils ist offenbar. Um keinen Preis wird ein österreichisches Gericht einen Unschuldigen einsperren. Ja aber… dann bleibt er ja vorbestraft und kann seine Praxis nicht ausüben! — Achselzucken. Mal chance! Einsperren tut man ihn nicht. — Und so ist unser Zahnarzt bis heute ohne Lizenz. Gott sei Dank aber sind unsere Behörden nicht nur pflichtbewußt, sondern auch menschlich. Das Gesetz ist erfüllt, das Recht ist nicht gebeugt worden — so läßt man denn nun auch sein Herz sprechen und drückt beide Augen zu, daß der betreffende Arzt nun schon drei Jahre lang ordiniert. Ohne Erlaubnis zwar, denn dazu kann ihm kein Richter verhelfen — und in der Gefahr, jeden Moment seine Existenz zu verlieren. Aber diese Gefahr scheint nicht zu groß. Denn da er ja offiziell keine Praxis haben darf, wird wohl auch niemand offiziell davon Kenntnis nehmen, daß er eine hät. Und so scheint der Fall zur allseitigen Zufriedenheit geregelt.

Dies hindert freilich nicht, die anze Angelegenheit sehr betrüblich zu finden und za fragen, ob die Rechtsgelehrten in derartigen Fällen und es gibt heute viele ähnlicher Art nicht doch eine glücklichere Lösung finden könnten. Hier wurde wohl Jus gesprochen, aber ohne Prudentia. und der „Irgun Zwai Leutni", die Verantwortung übernahmen, fielen in Palästina britische Soldaten und jüdische Freischärler in einem niemals ganz ruhenden Kleinkrieg.

Nun, da das britische Mandat über Palästina erloschen, der Judenstaat — allerdings mit ungewissen Grenzen, durch den arabischen Angriff gefährdet und unter der von den Revisionisten bekämpften provisorischen Regierung Ben Gurion —, Wirklichkeit geworden ist, werden gerade im revisionistischen Lager die ersten Stimmen laut, die eine völlige geistige Umstellung in der entscheidenden Frage des Verhältnisses zu England fordern. So lesen wir in der in Wien erscheinenden internationalen Halbmonatsschrift „Neue Welt und Judenstaat“

— und zwar in derselben Julinummer, die stürmisch den Rücktritt der Regierung Ben Gurion wegen des „Altalena“-Zwischenfalls verlangt —, einen Artikel von Denis Silagi „Warnung vor blindem Englandhaß“, in dem ein kollektiver, verallgemeinernder Britenhaß als „abstoßend, dumm und schädlich“, als „unmoralisch, unjüdisch und unzweckmäßig“, die Herstellung guter Beziehungen zu Großbritannien aber als „eine der ersten Aufgaben der jüdischen Außenpolitik“ bezeichnet wird.

„Zur guten jüdischen Außenpolitik gehört die Schaffung guter Beziehungen zur Mitte’l- meermacht Großbritannien. Darum betonen wir, daß der Krieg vorbei ist. In diesem Kriege wurden furchtbare, noch immer offene Wunden geschlagen. Noch immer strömt Rüstungsmaterial aus England nach Transjordanien, diesem britishen Protektorat, noch immer unterstützt London die Araber gegen die Juden, denn die scheinbare Neutralität im Ringen von Aggressor und Angegriffenen ist Begünstigung des Aggressors. Aber trotzdem, ja gerade darum wird es eine der Hauptaufgaben der jüdischen Außenpolitik sein, Beziehungen zu Großbritannien herzustellen, wie sie von Jabotinsky, ja schon von Herzl vorgezeichnet worden sind.“

Eine bemerkenswerte. Stimme, gerade weil sie aus einem kämpferischen Lager kommt. Wird die Bombenpolitik allmählich unzeitgemäß?

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