"Ich bin eine Rösselspringerin"

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Sie hat das Gailtal ebenso erforscht wie Immobilienmärkte - und immer wieder Wien: doris helmberger über Elisabeth Lichtenberger, Österreichs Doyenne der Geographie.

Die alte Dame ist schwer zu bremsen - beim Denken, beim Erzählen und überhaupt. Wahrscheinlich liegt das an der Art und Weise, wie ihr Gehirn funktioniert: "Mich haben immer viele Dinge interessiert, und ich habe sicher die Tendenz zu springen", gesteht sie in ihrer Wohnung gleich neben dem Wiener Naschmarkt. "Ich bin halt eine Rösselspringerin."

In der Kunst, zwischen einzelnen Themen zu "switchen", ist Elisabeth Lichtenberger unerreicht. Wie sonst wäre es möglich, gleichermaßen Expertin für Gailtaler Alpen, die amerikanische Obdachlosenproblematik und die österreichische Verkehrsmisere zu sein? Lichtenberger, die am 17. Februar dieses Jahres ihren 80. Geburtstag gefeiert hat, ist all dies - und damit "die letzte ihrer Art", wie ihr Schüler Walter Matznetter, heute Assistenz-Professor am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien, betont. "Zuerst Gebirgsformen zu untersuchen und sich dann sozialwissenschaftlichen Themen zuzuwenden, das geht heute nicht mehr." Auch Lichtenberger sieht das ähnlich: "Ich bin einer der letzten Dinosaurier meines Fachs", meint sie in feinstem Schönbrunner-Deutsch.

Die Frau mit dem Hammer

Schon das Interesse der jungen Studentin ist breit gefächert: 1925 als Elisabeth Czermak geboren, beginnt sie an der Uni Wien das Studium der Geographie, Geschichte, Biologie und Geologie. Spätestens bei der Wahl des Dissertationsfachs wird der wissensdurstigen Frau eine Entscheidung abgenötigt: Soll es Kunstgeschichte sein, Geschichte oder doch Geographie? "Professor Johann Sölch, der physische Geograph, hat zu mir gesagt: Das andere machen Sie nur, wenn Sie sich eine geographische Dissertation nicht zutrauen'", erinnert sich Lichtenberger. "Daraufhin bin ich dort geblieben."

Mit dem Hammer in der Hand zieht sie los, erforscht die Entstehung der Gailtaler Alpen - und findet auf dem Dobratsch prompt kleine Quarzkristalle, die sie jahrelang mit sich herumtragen wird: "Die waren der Beleg dafür, dass in einem Kalkgestein Kristalline vorhanden sind", erzählt die Geographin. Schließlich erscheint 1949 ihre Dissertation - die erste morphologische Doktorarbeit einer Frau in Österreich.

Die couragierte Studienassistentin zieht weiter "hammerschwingend durch die Gegend". Auch ihre zwei Kinder, die sie nach der Hochzeit mit Josef Lichtenberger - später Mittelschullehrer für Geographie und Geschichte - bekommt, können ihren Elan nicht bremsen. Trotz der vertauschten Rollenverhältnisse ist ihr eine feministische Haltung fremd geblieben. "Dazu bin ich zu früh geboren", bekennt sie. Auch in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, jenem "wirklichen Männerverein", deren "wirkliches Mitglied" sie im Alter von 62 Jahren geworden ist, verzichtet die Wissenschafterin und fünffache Großmutter bis heute auf Provokationen: "Man kann Männern unter vier Augen sehr viel über ihre Schwächen sagen - aber nicht vor anderen."

Die Zusammenarbeit der jungen Assistentin mit den männlichen Professoren läuft nicht ganz so reibungsfrei: Weil zwischen ihr und dem Nachfolger Sölchs die Chemie nicht stimmt, wechselt sie 1955 von der physischen Geographie zu Hans Bobek und widmet sich fortan der Kultur- und Sozialgeographie - näherhin der Stadtforschung, in der sie sich international einen Namen machen wird.

Als Universitätsassistentin bringt sie Unglaubliches zustande: Im Rahmen mehrerer Proseminare von 1955 bis 1958 gelingt es ihr, ganz Wien kartographisch zu erfassen. Sie erstellt Kriterien für eine Bautypologie, definiert Bauten systematisch nach Funktionen und Fassaden, setzt Zäsuren für die Baustilbestimmung und gibt all dies an ihre Studentinnen und Studenten weiter. Diese ziehen in kleinen Gruppen los und kartieren mit Hilfe von Farbstiften und hausweisen Protokollen je einen bestimmten Wiener Zählbezirk.

"Zu dieser Zeit hätte sich niemand gedacht, dass eine Universitätsassistentin so etwas schaffen kann", sagt Martin Seger, Vorstand des Instituts für Geographie und Regionalforschung an der Uni Klagenfurt. Die Energie seiner Lehrerin hat er oft genug selbst erlebt: "An Samstagen sind wir immer von früh bis spät ins Gelände gefahren. Sie mit ihrem vw-Käfer und wir Studenten dabei."

Mutter der Flächenwidmung

Lichtenbergers Methode der kulturgeographischen Kartierung wird bahnbrechend für den deutschen Sprachraum. In Wien entsteht auf dieser Grundlage 1966 der erste Wien-Atlas, der wiederum Grundlage des Wiener Flächenwidmungsplanes wird. Dazu kommen später das Buch "Die Wiener Altstadt" und der "Stadtgeographische Führer Wien".

Ihr Elan ebnet der Assistentin auch den Weg zur Professur: Sie untersucht Wiener Geschäftsportale und habilitiert sich 1965 mit einer Analyse der Geschäftsstraßen Wiens. 1968 geht die junge Dozentin für ein Jahr nach Kent/usa, ein Jahr später nach Ottawa/Kanada und 1972 nach Erlangen. Im selben Jahr wird sie als erste Frau in Österreich ordentliche Professorin für Geographie an der Universität Wien und gründet den Studienzweig Raumforschung und Raumordnung.

Mit ihrer Ernennung greift Lichtenberger prompt ein "heißes Eisen" an: die jugoslawischen Gastarbeiter in Wien. Erstmals wendet sie dabei auch die Interview-Technik an. Auch ein zweites Thema, das sie nach einem Aufenthalt im kalifornischen Berkeley ins Auge fasst, entspricht nicht den Usancen - die Obdachlosigkeit. Anders als das "darwinistische" Amerika habe die Wiener Kommunalpolitik diesem Problem mit "ausgedehnten Anti-Segregationstendenzen" entgegengewirkt.

Weniger schmeichelhaft fallen die Worte der ehemaligen Mitarbeiterin im Verkehrs- und Stadtentwicklungsbeirat der Stadt Wien über einen anderen Aspekt der hiesigen Zustände aus: die Wiener Freunderlwirtschaft. Allzu gut erinnert sich Lichtenberger an einen Bestechungsversuch eines Architekten, der ihr für eine Unterschrift 50.000 Schilling geboten habe. "In Wien ist alles bestechlich", lautet ihr Urteil. Auch heute noch sei in der Bundeshauptstadt eine "Bau-Mafia" am Werk: "Der Peter Pilz übertreibt sicher machmal, aber da gebe ich ihm recht. Hier gibt es undurchschaubare Verknüpfungen zwischen Künstlern und reichen Leuten, wo viele nicht nein sagen."

Nicht viel besser sei die Situation in den Bundesländern: "Wir haben in Österreich keine Bundesraumordnung", klagt sie. "Jeder Gemeindebürgermeister kann sagen: Lieber Freund, bau das Häuserl nur, du bekommst eh einmal eine Straße.'" Kein Wunder, dass die Bausünden nur so aus dem Boden schießen. Die imposantesten "Scheußlichkeiten" - nicht nur in Wien, sondern weltweit - hält Lichtenberger seit Jahrzehnten mit ihrer Leica fest. 40.000 Dias hat die leidenschaftliche Fotografin bereits angehäuft.

Gegen Hochhäuser hat die Anhängerin des Pariser Hochbaukomplexes "La Défense" indes nichts - nur dann, wenn sie an einem Ort stehen, der nicht passt. Entsprechend glücklich ist die Stadtgeographin, dass das Projekt "Wien-Mitte" mit dem geplanten Hochhausring rund um das Stadtzentrum, das von der unesco zum Weltkulturerbe geadelt wurde, überarbeitet werden muss.

"Fast im Moskau-Express"

Weniger glücklich ist Lichtenberger, die 1989 auch das Institut für Stadt- und Regionalforschung der Akademie der Wissenschaften gegründet hat, mit der österreichischen Verkehrspolitik: "Die ist so miserabel, dass der letzte Dorfpfarrer sie besser machen könnte", ätzt die soignierte Dame. 1992, als das "Hochgeschwindigkeitsnetz" Europas kreiert wurde, sei noch eine Verbindung von Triest über Wien nach Moskau geplant gewesen. "Da wären wir im Moskau-Express dringewesen." Doch die "Dritte Paneuropäische Verkehrskonferenz" in Helsinki 1997 und das österreichische Aus für den Semmeringtunnel hätten Wien auf eine bloß nationale Metropole reduziert. Zugleich sei das Problem des Nord-Süd-Transits ungelöst, kritisiert Lichtenberger, die 1994 noch Koordinatorin des Schwerpunkts "Österreich. Raum und Gesellschaft" des Wissenschaftsfonds fwf wurde. "Am Ende", glaubt die Raumplanerin, "wird Budapest gewinnen."

Bis es so weit ist, bleibt Elisabeth Lichtenberger jedenfalls am Ball: Noch im Herbst soll ihr neues Buch über Europa erscheinen. Daneben forscht sie über Immobilienmärkte und loggt sich regelmäßig in Online-Zeitungen ein.

Dass sie diese technologische Hürde trotz ihres Alters noch genommen hat, verwundert kaum: Sie ist ja eine Rösselspringerin.

Folge 5: Helmut Rauch

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