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18 Wochenstunden Zukunft

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ehemaliger Mitglieder der NSDAP ist in den anderen Parteien relativ nicht geringer). Aber eigenartig ist die Virulenz des uralten provinziell-österreichischen „Antiklerikalismus“. Es ist in den einstigen liberalbürgerlichen Stadt- und Marktgemeinden Vorarlberg nicht anders als in Vöckla-bruck, Ried, Wolfsberg oder Kufstein. Wer am Privateigentum festhält und die freie Wirtschaft verficht, aber konfessionsgebundenes Christentum für sich ablehnt, fühlt sich in der FPÖ wohl, obzwar in Vorarlberg ihre Führung durchaus in Händen maßvoller Persönlichkeiten von hohem persönlichen Ansehen liegt (Landesobmann S e e b a c h e r, Dr. H. K i n z, Robert Bosch).

Der letzte Wahlerfolg der FPÖ, 1962, hat seine Ursache in anderswo wenig oder gar nicht vorhandenen Tatsachen: dem nicht aufgeklärten Sprengstoffanschlag auf einen FPÖ-Mandatar in Lustenau, der in Vorarlberg äußerst unpopulären Abgeordneten- und Ministerpension, der fortschreitenden Proporzherrschaft, die

nirgends so radikal abgelehnt wird wie in Vorarlberg. Es dürfte aber bei diesem Wahlerfolg als Ausnahmeerscheinung bleiben, denn die Vorarlberger FPÖ hat zwar mehr Stimmen erzielt als die Tiroler, mußte aber auf Anordnung ihrer Wiener Parteiführung

das Nationalratsmandat dem (politisch freilich versierteren) Tiroler Kandidaten Dr. M a h n e r t überlassen (angeblich nur auf die halbe Wahlperiode). So, wie die Dinge heute aussehen, würde eine Nationalratswahl die FPÖ viele Stimmen zugunsten der SPÖ kosten.

Als besonders wohltuend empfindet man es, daß in Vorarlberg auch im politischen Wettbewerb der Parteien so etwas wie Fairneß herrscht. Persönliche Verunglimpfungen kommen kaum je vor, und durchweg wird auch der Standpunkt des Gegners eingehend geprüft. Achtung vor der Meinung des anderen ist eine Selbstverständlichkeit. Wo ausgesprochen landesfremde Persönlichkeiten zu politischer Bedeutung in einzelnen Parteien gelangten, waren und sind Ausnahmen hiervon zu verzeichnen, die aber wirklich niemand billigt.

Sicher ist eines: In Vorarlberg ist man bemüht, sich in einer pluralistischen Gesellschaft zu bewähren. Man weiß, daß Demokratie vor allem auch Gespräch bedeutet, echtes Mitspracherecht des Volkes an den politischen Entscheidungen. Spricht man im europäischen Rahmen von einem „Austria docet“, so könnte man mit gutem Grund innerhalb des politischen Gefüges ganz Österreichs diesen Satz abwandeln in: „Alemannia austriaca docet.“

Von Zeit zu Zeit drängen immer wieder neue Fächer in die Schule. In den letzten Jahren waren Wünsche nach einer Verkehrskunde, einer Rechtskunde, einer Gesellschaftskunde, einer Wirtschaftskunde usw. laut geworden. Das Bundesministerium für Unterricht hat sich dieser Anstürme verhältnismäßig gut erwehrt. Auch jetzt hat man sich dankenswerterweise bei den neuen Lehrplänen für die Höheren Schulen mit einer kleinen Umbenennung begnügt. Geschichte heißt in Zukunft „Geschichte und Gesellschaftskunde“, und Geographie hat man in „Geographie und Wirtschaftskunde“ abgeändert.

Grundsätzlich ist dagegen nichts einzuwenden, und diese Form ist jedenfalls besser, als hätte man ein neues Fach, etwa Gemeinschaftskunde oder dergleichen, geschaffen. Nur eines, glaube ich, hat man übersehen. Man hat Wirtschafts- und Gesellschaftskunde (Sozialkunde), die beide aufs engste zusammengehören, auf zwei Fächer aufgeteilt. Früher, als Geographie und Geschichte selbstverständlich miteinander gekoppelt waren, hätte das gar nichts ausgemacht. Nun ist Geschichte oder Geographie mit zahlreichen anderen Fächern zu verbinden. Das hat Vor-und Nachteile. In unserem Fall der Wirtschafts- und Gesellschaftskunde ist es leider ein Nachteil.

Obwohl es uns vollkommen fern liegt, einem Fach etwa die Fähigkeit zu einem Zusatz, wie zum Beispiel Gesellschaftskunde, abzusprechen, meinen wir doch, daß Wirtschafts- und Gesellschaftskunde besser in der Hand des Geographen vereint wären. Was nützt es der Gesellschaftskunde, wenn in der Geschichte des Altertums oder des Mittelalters mehr als bisher die gesellschaftlichen Verhältnisse berücksichtigt werden? Dort kann eben nur die Gesellschaftskunde des Altertums oder des Mittelalters behandelt werden, während es doch der Bildungsaufgabe der Höheren Schule entsprechen würde, die Gegenwart zu behandeln, zu besprechen. Die Geographie ist die naturgegebene Gegenwartswissenschaft. Wir meinen nämlich, daß die Behandlung der gesellschaftlichen Zustände in der Sowjetunion, in China, im vorderen Osten (in den arabischen Staaten), in den lateinamerikanischen Ländern brennendere Fragen bringen als die Gesellschaftszu-stände bei den Römern und Griechen oder bei den Germanen. Interessant mögen diese sein, Bildungskraft mag ihnen auch zukommen, aber wir brauchen lebensnahe Stoffe.

In beiden Zweigen hat sich die Geographie in den letzten Jahren bestens entwickelt und ausgerüstet. (Von der Geschichte ist das gewiß für die einzelnen Abschnitte der Vergangenheit ebenso zu behaupten.) Wirtschafts- und Gesellschaftsgeographie sind moderne, bereits eingehend und umfangreich untersuchte Wissensgebiete, die einen zeitnahen und bildungskräftigen Stoff zur Verfügung stellen.

Was ist eigentlich Geographie?

Seit einigen Jahrzehnten streiten sich die Fachleute um den Gegenstand der Geographie. Die meisten — leider

nicht alle — einigten sich auf die Landschaft und sprachen dies auch aus.

Allmählich kommt man auch zur Einsicht, daß die allgemeine Geographie doch nichts anderes sei als eine — wenn auch unumgänglich notwendige — Einleitung für die Länderkunde.

Wenn sich die Geographie nicht einheitlich und deutlich zur Länderkunde bekennt, hat sie ausgespielt. Sie hat sich in zahlreiche Wissenschaften aufgelöst, die der Geograph nicht mehr alle beherrschen kann. Wir nennen die Kartenkunde, die Gletscherkunde, die Klimalehre, die Siedlungskunde und viele andere. Der Auflösungsvorgang geht weiter.

In zunehmendem Maß nimmt sich die Geographie der Wirtschaft an. Wirtschaftsgeographie wurde groß geschrieben, und es ist völlig richtig, daß die Wirtschaft auch in der Geographie berücksichtigt wird. Wie hat man sich vor ein paar Jahrzehnten noch über Hans Spethmann von fachgeographischer Seite lustig gemacht! In der letzten Zeit entdeckte man die Gesellschaftsgeographie (man spricht auch gerne, wenn auch nach meinem Dafürhalten völlig unrichtig, von Sozialgeographie. Wenn das richtig wäre, müßte man auch von Soziallogie reden. Das kommt von den verflixten Fremdwörtern !)• Die Forschung der Geographen bewegt sich aber — ob sie das wahrhaben wollen oder nicht, es ist so! — auf Nachbargebieten. Eine Arbeit wird nicht dadurch zu einer geographischen, daß sie ein Geograph leistet. Der Gegenstand der Geographie ist aber die Landschaft, die Hauptaufgabe ist Länderkunde.

Landschaft als Lebensraum

Die Landschaft ist der Lebensraum, unser eigener und der anderer Völker. Das Wort Lebensraum hat leider auch keinen guten Ruf. Aber Mißbrauch kann mit jedem* Wort getrieben wer-

den. Es wird Sache der Wissenschaft sein, die nötigen Worte wieder zu Ehren zu bringen.

Um unseren Lebensraum und den Lebensraum unserer Nachbarn — und durch die Verkehrsentwicklung sind alle Staaten der Erde zu Nachbarn geworden — müssen wir uns kümmern. (Ein Flugzeug brachte mich um die Jahreswende in zwei Stunden und vierzig Minuten von Moskau nach Wien. Nach Salzburg war ich viel länger unterwegs.)

Um den Lebensraum zu erforschen, braucht es sehr viele Wissenschaften. Dem Geographen bleibt die hohe und notwendige Aufgabe der Zusammenfassung und Zusammenschau.

Da wir in die Schule nicht noch mehr Fächer einführen können, sind wir froh, ein so vielseitiges Fach wie G igraphie zu haben. Wir müssen dieses Fach aber auch richtig nützen und dürfen keine Gelegenheit vorübergehen lassen, die Kinder und Jugendlichen frühzeitig und entwicklungsgemäß — das ist Sache der Darstellung — in alle Fragen des eigenen und der fremden Lebensräume (Landschaften) einzuführen. Das ist kein schöngeistiges Geplauder, das ist kein stundenfüllendes Bilderzeigen, das ist ernste Bildungsarbeit, ohne die wir uns heute in der Welt nicht mehr zurechtfinden können. Den Raum, die Landschaft, in der wir leben, müssen wir kennen. Diesen Raum müssen wir und die Jugend gestalten. Daher muß jeder junge Mensch erfahren, wie wechselvoll und vielseitig und eng verschlungen die Tatsachen sind. Da genügt kein bloßes Beschreiben, wenngleich dies die unerläßliche Voraussetzung ist. Da muß erklärt werden nach den Gesetzen der Naturlehre, der Lebenskunde, der Seelenkunde. Da muß auch gedeutet, das heißt in einem Zusammenhang eingeordnet werden. Das verlangt Verantwortungsbewußtsein. Was uns heute Gewinn bringt, kann uns morgen schaden. Wir müssen aber auch morgen leben. Was in des Nachbarn Garten geschieht, betrifft auch unseren Garten. Daher muß sich die Jugend eingehend und dauernd mit der benachbarten Landschaft beschäftigen.

Die Frage der Entwicklungsländer ist eine Modesache geworden. Es ist aber mehr als eine Modesache. Und wer könnte diese Frage besser im Unterricht behandeln als die Geographie? Gewiß kann die Geographie die Entwicklungsländer nicht allein erforschen.

Fragen des Landschaftsschutzes wird auch der Naturkundeunterricht betrachten, aber diese Dinge können ohne Blick auf die Wirtschaft, die Besiedlung, den Menschen, die Gesellschaft und vieles andere nicht durchgenommen werden.

Folgerungen für die Schule

Die Geographie (in den derzeitigen Lehrplänen mit 19 beziehungsweise 17 Wochenstunden bedacht) sollte in der künftigen Höheren Schule Österreichs durch alle Jahre mit zwei Wochenstunden vertreten sein, sie sollte nicht, wie es in einigen Typen vorgesehen ist, in der 8. Klasse unterbrochen werden. Diese Forderung von zusammen 18 Wochenstunden in neun Jahren der Höheren Schule sind keine unbillige Forderung.

Die Geographie, so gesehen, wie wir es nur ganz kurz darlegen konnten, gibt dem jungen Menschen das Rüstzeug für das Leben, in dem er einmal wichtige Entscheidungen zur Gestaltung der Landschaft, will sagen des Lebensraums, zu treffen hat.

Die Bildungswirkung versprechen wir uns von einem klug und verantwortungsbewußt auswählenden, wirklich in jeder Hinsicht beispielhaften Geographieunterricht.

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