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Die neuen Unterrichtsfächer

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Durch das Schulorganisationsge-setz 1962 wurden für die allgemeinbildenden höheren Schulen, für den polytechnischen Lehrgang der Pflichtschulen und für die Hauptschulen die Fächer „Wirtschaftskunde“ und „Sozialkunde“ eingeführt. Die Einführung der neuen Fächer beruht auf der Überlegung, daß der junge Mensch, der von der Schule abgeht, mit den Problemen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens vertraut gemacht werden soll, was zweifellos ein sehr begrüßenswerter Gedanke Ist.

Die erste Schwierigkeit ist, daß die Lehramtskandidaten für Geschichte beziehungsweise für Geographie nie für die neuen Fächer ausgebildet wurden und heute ebenfalls noch nicht ausgebildet werden (!). Die Ge-schichts- und Geographielehrer sollen demnach Wissensgebiete vortragen, die sie selbst nie gehört haben. Daher war es notwendig, sie in irgendeiner Form über den Stoff zu unterweisen. Das Bundesministerium für Unterricht hat sich auch alle Mühe gegeben, um rasch Lehrbehelfe zu beschaffen, und auch Anweisungen gegeben, wie der Stoff in den Geschichts- und Geographieunterricht eingebaut werden soll. Trotz solcher Bemühungen herrscht unter den Lehrern einige Besorgnis, weil es sich doch nur um Notbehelfe handelt. Das wird sich mit der Zeit bessern, weil eine entsprechende Ausbildung der Unterrichtenden durch Seminare, durch Verteilung von Lehrmaterial und ähnliches dazu führen wird, bessere Unterlagen für den Unterricht zu verschaffen. Schließlich ist für später daran gedacht, den angehenden Professoren an den Universitäten Sozialkunde beziehungsweise Wirtschaftskunde „beizubringen“.

An dieser Stelle hat aber eine sehr ernsthafte Kritik für das gesamte Gebiet einzusetzen. Es ist noch weitgehend ungeklärt, wer den Lehramtskandidaten für die beiden „Kunden“ eine grundlegende Unterweisung geben wird. Es wäre kaum zu verantworten, dem Studenten der Geographie oder Geschichte nur durch einen zusätzlichen Lehrgang das nötige Wissen zu vermitteln. Ein Kurs reicht für das, was man unter „Sozialkunde“ begreift, nicht aus, auch wenn man nur die „gesicherten Grundlagen“ vorbringen will. Wie kürzlich bei einer Tagung festgestellt wurde, sind zur Erstellung der gesicherten Grundlagen der Sozialkunde die Fächer Soziologie, öffentliches und Privatrecht, Nationalökonomie und Sozialpolitik sowie Sozialgeschichte notwendig. Allein die Aufzählung dieser unterschiedlichen Wissensgebiete läßt erkennen, daß der Lehramtskandidat für Geschichte die Sozialkunde nicht in einem kursähnlichen Lehrgang erlernen könne. Obwohl also umfangreiche Vorarbeiten zur Unterweisung in „Sozialkunde“ an den Uni' versitäten notwendig wären, sind bisher überhaupt keine Vorbereitungen an den Hochschulen vorgesehen.

Aus den vorgeschlagenen Fächerverschmelzungen (Geschichte—Sozialkunde, Geographie—Wirtschaftskunde) ergeben sich überhaupt gefährliche Aspekte. Es ist nämlich allgemein bekannt geworden, daß „Sozialkunde“ während des Geschichtsunterrichtes in der Weise gelehrt werden soll, daß bei der Behandlung historischer Ereignisse gesellschafts-, beziehungsweise staatspolitische Fragen zu besprechen sind; etwa beim Thema Athen das Problem der Demokratie, bei den Primitivvölkern der Bereich der Familie und so weiter.

Immer wieder wird versucht, aus der Geschichte Beispiele zu zitieren, um eigene Wertvorstellungen und Weltanschauungen zu untermauern. Das war etwa der Fall, als es einen besonders betonten Nationalismus zu entfachen galt, oder als man historisch zu beweisen suchte, daß die eigene Rasse immer schon die bessere war; einige Jahrzehnte vorher war es üblich gewesen, die gesamte Geschichte eines Volkes als ein Preislied der eigenen Dynastie darzustellen.

Heute besteht nun die Gefahr, die Geschichte wieder zu mißbrauchen. Entweder national, dynastisch oder klassenkämpferisch — noch immer will man nicht zubilligen, daß die Geschichte eine eigenständige Wissenschaft und keine Hilfswissenschaft für Ideologien ist. Heute sucht man etwa nach bestimmten gesellschaftlichen oder staatlichen Idealformen in der Geschichte, um festzustellen, daß die besten Menschen schon immer Demokraten waren oder zumindest für die Demokratie gelitten hatten. Dabei läßt man die ganz anderen geistigen und sozialen Bedingungen außer acht, die früher bestanden. In dieser Suche nach solchen sozialen und staatlichen Parallelen hat in einer Zeit, die das gesellschaftliche Verhalten besonders beachtet, die Sozialgeschichte eine ungeheure Aufwertung erfahren. Das hat dem Fach sehr viel genützt, aber auch die Grenzen zwischen Sozialgeschichte, ja überhaupt der ganzen Geschichtswissenschaft und der „Sozialkunde“ der Gegenwart verwischt. Und das ist ein Irrtum, denn Sozialkunde soll eine systematische Darstellung der gesellschaftlichen Erscheinungen der Gegenwart sein und zur Geschichte nur dasselbe Verhältnis haben wie etwa die Wirtschaftswissenschaften zur Wirtschaftsgeschichte und so weiter.

Es muß daher aus der Verantwortung des Historikers eindeutig hervorgehen, daß infolge der Eigenständigkeit der Fächer Geschichte und Sozialkunde aus wissenschaftlichen Gründen eine Vermengung in einen Gegenstand abzulehnen ist. Diese Feststellung kann der 1 Verfasser dieses Aufsatzes um so leichter treffen, weil er selbst als Dozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte die Probleme und die Grenzen seines Faches kennt.

Ohne hier ebenfalls weit ausholen zu wollen, kann wahrscheinlich die Unzulässigkeit der Vermengung von Geographie und „Wirtschaftskunde“ mit gleichem Recht festgehalten werden. Geographie ist die Beschreibung des Raumes, in dem wir leben, und somit eine, zugegebenermaßen wichtige, Voraussetzung des Wirtschaf tens; die Lehre von der Wirtschaft, mag es sich um Volks- oder Betriebswirtschaft, oder um Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und ähnliches handeln, hat aber mit Geographie im Wesen nicht viel gemein. Alles, was oben bei dem Verhältnis Geschichte—Sozialkunde gesagt wurde, trifft daher in ähnlicher Weise beim Paar Geographie—Wirtschaftskunde ebenfalls zu.

Aus diesem wissenschaftlich begründetem Aspekt muß ein Vermengen der beiden „Kunden“ mit Geschichte beziehungsweise Geographie entschieden abgelehnt werden.

Dennoch wäre es leichtfertig, die beiden neuen Fächer einfach wieder abzuschaffen. Die Fragen der heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung müssen den jungen Menschen in irgendeiner Form nahegebracht werden. Um was es hier geht, ist die einwandfreie Durchführung. Entscheidend wird es sein, die Sozial- und Wirtschaftskunde als Einheit zu betrachten. Denn die Wirtschaft kann nicht isoliert betrachtet werden, auch nicht allein in ihrem geographisch-räumlichen Zusammenhang, sondern nur in ihrer Einordnung in die Gesellschaft. Das haben die Historiker längst erkannt. Bei einer Betrachtung der einschlägigen wirtschaftshistorischen Werke der letzten zwanzig Jahre, die der Verfasser dieses Aufsatzes durchgeführt hat, konnte festgestellt werden, daß sich, trotz zahlreicher Versuche, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nicht trennen lassen. Dasselbe gilt für die Gegenwart aus den eben angeführten Gründen.

Ebenso kann aus dem Ausbildungsgang der zukünftigen Sozial-und Wirtschaftskundler bereits eine weitgehende Einheit ersichtlich werden, so daß es auch aus diesem Grund eine unnötige Belastung zu sein scheint, daß der Student sowohl der Geschichte als auch der Geographie in zwei verschiedenen Ausbildungsgängen mit dem gleichen Stoff befaßt werden muß. Da für beide „Kunden“ ein einheitliches Fach Wirtschafts- und Sozialkunde absolut gegeben ist, ist nicht einzusehen, warum es nicht durch eine Lehrperson auch vorgetragen werden solle.

Dafür wäre das Wichtigste die Einführung eines neuen Faches für die Lehramtsprüfung, das den gleichen Rang etwa wie die Philosophie haben könnte. Die Einrichtung eines solchen Faches ist an sich Sache der Universitäten und wird nicht allzu schwer fallen, da man in den neuen Hochschulstudiengesetzen interfakultative Fachgruppen vorgesehen hat.

Bei der Ausbildung für das neue Lehrfach müssen Vertreter der Geisteswissenschaften (Geographen, Historiker) mit Soziologen, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern zusammenarbeiten. Das kann allerdings erst geschehen, wenn im Schulorganisationsgesetz die notwendigen Novellierungen vorgenommen werden. Auch das ist nicht so schwierig, weil man hier nur an das Beispiel des polytechnischen Lehrganges anzuknüpfen braucht, wo gesetzmäßig ein einheitliches Fach Wirtschafts- und Sozialkunde (unter Einschluß der Zeitgeschichte) vorgesehen ist. Eine weitere Möglichkeit bieten die vorgesehenen seminaristischen Veranstaltungen der letzten Klassen der allgemein-bildenden höheren Lehranstalten, in denen das neue Fach vorgetragen werden könnte.

Man sollte keine Angst vor einer Novellierung der Schulgesetze haben; konnte man doch bei der umfassenden Schulgesetzgebung des Jahres 1962 etwas geplant haben, was dann in der Praxis verändert werden mußte.

Falls man aber am Text der Schulgesetze starr festhalten, und die Fächer „Sozialkunde“ mit der Geschichte und „Wirtschaftskunde“ mit Geographie weiterhin gekoppelt lehren will, wäre der kühne Schritt, den man 1962 beim Schulorganisationsgesetz gewagt hat, ein Schlag ins Wasser gewesen.

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