Die Erschütterung im russischen Volk

Werbung
Werbung
Werbung

Die Anschläge in Moskau würden zu einer weiteren Verhärtung des politischen Kurses in Russland führen, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Nach den Terroranschlägen in zwei zentralen Metrostationen am Montagmorgen versuchen die Moskauer allmählich zu sich zu kommen. Für ein aus Tschetschenien, das mit gewaltigen russischen Finanzmitteln unter dem Putin-Freund Ramsan Kadyrow befriedet wurde, gesteuertes Attentat bestand diesmal eigentlich kein Anlass, sagt die Kunsthistorikerin Selfira Tregulowa, die wie viele nach der Schreckensnachricht zu Fuß zur Arbeit ging und auch ihren Kindern verboten hat, die Metro zu benutzen. Auch der Journalistin Nina Kurijewa scheint die Versicherung von Geheimdienstchef Bortnikow, die Auftraggeber des Verbrechens säßen im Nordkaukasus, allzu vorhersehbar. Dabei hat selbst die standhaft kremlkritische Kaukasus-Expertin Julia Latynina erklärt, die tschetschenischen Terroristen mögen eingeschüchtert sein, dafür würden die Widerstandskämpfer in den Nachbarrepubliken immer aktiver.

Doch viele trauen ihrer Regierung, gegen die sich in jüngster Zeit immer mehr Volksproteste mobilisieren, beinahe jeden Schachzug zu, um den Zorn der verarmenden und entrechteten Leute in eine andere Richtung zu lenken. Wie viele Moskauer muss Frau Kuriewa an die Sprengstoffanschläge von 1999 denken, die dabei halfen, Putin an die Macht zu bringen und von denen gemäß den Nachforschungen des ermordeten Ex-Spions Alexander Litwinenko zumindest ein Teil von den Diensten selbst gelegt wurde, um Angst zu säen.[…]

Je mehr Polizisten, desto schlechter die Arbeit

Das Verhalten der Miliz, die in erhöhte Bereitschaft versetzt wurde, nährt die Verschwörungstheorien und hilflosen Hass. Der Moskauer Andrej Kirpitschnikow, der kurz nach den Anschlägen an einer Metroticketkasse anstand, hörte, wie ein dicker Polizist mit kugelsicherer Weste einer betagten U-Bahn-Mitarbeiterin beinahe triumphierend zuschrie, es würden jetzt noch mindestens drei Explosionen folgen. Kirpitschnikow fragte den Beamten, was das zu bedeuten habe. Doch statt einer Erklärung drohte der ihm nur, er würde ihn festnehmen und aufs Geheimdienstquartier der Lubjanka verfrachten. Seine Information, erklärte der Ordnungshüter, dem die Metropassagiere völlig egal zu sein schienen, sei geheim. „Je mehr Polizisten bei uns herumlaufen, je mehr Vollmachten sie bekommen, desto schlechter tun sie ihre Arbeit“, klagt die Angestellte Anna. […]

Weitere Desintegration des Landes

Dass Premier Putin lapidar ankündigte, die Schuldigen an dem Terrorakt würden liquidiert, lasse vor allem eine weitere Verhärtung des politischen Kurses befürchten, meint Viktor Jerofejew. Das wäre aber genau das Falsche in dieser Situation, so der Schriftsteller, der zugleich den Terroristen den tiefsten Hass ausspricht. Sein Kollege Wladimir Sorokin erblickt in Putins Erklärung die reflexhafte Drohgeste eines politischen Führers, der das Unabwendbare aufhalten will. Das russische Imperium zerfalle weiter, davon ist Sorokin überzeugt. Der Nordkaukasus, an dem der Kreml - wie schon im neunzehnten Jahrhundert - so verzweifelt festhält, sei auf Dauer nicht zu halten. Die Region gebe Russland ja nichts, sagt Sorokin. Dort verschwinde nur viel Geld. „Die Kaukasusvölker sprechen eine andere Sprache als wir. Ihre Mentalität ist mit der der Russen unvereinbar.“

Die weitere Desintegration des Landes werde mit den Unruheregionen im Süden beginnen, prophezeit Sorokin. Das von Putin abgegebene Versprechen, dies mit Gewalt zu verhindern, gehört in den Augen des Schriftstellers zu den Konvulsionen eines sterbenden staatlichen Organismus.

* Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. März 2010

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung