Terror als Narkotikum

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Moskau, Washingston und Nahost - alles Terror? Anstatt mit politischen Lösungen an der Wurzel anzusetzen, betreibt man mit dem allgegenwärtigen Terrorvorwurf bloße Vernebelungsstrategie.

Die Welt steht unter Schock: Tschetschenische Rebellen brachten Mittwoch vergangener Woche in einem Moskauer Theater mehr als 800 Besucher des Musicals "Nord-Ost" in ihre Gewalt. Auch Wladimir Putin schien wie gelähmt: keine Versicherung, alles Erdenkliche zu tun, um dem Albtraum ein Ende zu machen, keine tröstenden Worte für die Angehörigen. Erst nach Stunden eisernen Schweigens meldete sich der russische Präsident zu Wort - und hatte auch schon die Übeltäter ausgemacht: "Ausländische Terroristenzentren" würden hinter der Aktion stecken, so Putin.

Noch weniger auskunftsfreudig zeigte man sich nach dem blutigen Ende des Dramas: Mindestens 115 Geiseln wurden durch den Einsatz eines Gases getötet, über dessen Namen sich der Kreml bis heute in Schweigen hüllt. Die Gerüchte reichen von einem überdosierten Narkosemittel bis hin zum Einsatz eines Kampfgases. Über die Drahtzieher des Terrors ließ Putin die Öffentlichkeit jedoch niemals im Ungewissen: In einer Rede bat er die "Freunde in der ganzen Welt" um Hilfe im Kampf gegen den gemeinsamen Feind - den internationalen Terrorismus.

Sammelsurium des Bösen

Diese Botschaft stieß bei den Manichäern im Weißen Haus auf große Sympathie, würde sich doch dadurch - rechtzeitig vor dem geplanten Angriff auf den Irak - das Bündnis der Guten gegen die Achse des Bösen konsolidieren. Und so findet sich hinter dieser Scheidelinie ein buntes Sammelsurium an Feindbildern - je nach politischer Opportunität: Osama Bin Ladens Netzwerk El Kaida ebenso wie die palästinensischen Selbstmordattentäter, Saddam Hussein ebenso wie die tschetschenischen Rebellen. Selbst John Allen Muhammad, der als "Sniper" drei Wochen lang das Umland von Washington ins Visier genommen hatte und nach seiner Festnahme vergangene Woche als Sympathisant der Anschläge vom 11. September 2001 geoutet wurde, fügt sich trefflich in das Schwarzweiß-Schema ein.

Sowohl die USA als auch Russland werden nicht müde, vor einem Beziehungsgeflecht zwischen diesen Protagonisten des Bösen zu warnen. Mit Erfolg: Angesichts der globalen Angst vor einer weit verzweigten, dunklen Bedrohung lässt sich mit Leichtigkeit ein Zustand chronischer Notwehr ableiten. Genutzt wird diese Situation nach Belieben: sei es, um sich wie die USA das moralische Recht zum Präventivschlag gegen den Irak zu sichern, sei es, um wie Russland Menschenrechts-verletzungen in Tschetschenien als Terrorbekämpfung zu tarnen.

Die Chance zur Neudefinition des Bösen hat Wladimir Putin gleich nach dem 11. September genutzt und das ungelöste Tschetschenienproblem als Teil einer globalen islamischen Verschwörung dargestellt. Im Grunde, polterte der Mann im Kreml, sei das "kriminelle Regime" im Kaukasus nichts anderes als die Taliban. "Wir haben das Recht, alle Mittel gegen dieses Regime anzuwenden, wenn das Gesetz nicht ausreicht." Die Folge war und ist eine Politik der verbrannten Erde: Seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im Jahr 1999 wurden nach Schätzungen der "Gesellschaft für bedrohte Völker" 80.000 Frauen, Männer und Kinder von der russischen Soldateska ermordet. Dass Wladimir Putin als erste Tat nach der Beendigung des Moskauer Geiseldramas am Samstag eine Großoffensive in der abtrünnigen Kaukasus-Republik anordnete, passt ins Bild. Die Gewalt tschetschenischer Guerilla-Kämpfer wird weiterhin mit unkontrolliertem Gegenterror bekämpft - ohne das Angebot einer glaubwürdigen politischen Lösung. Eine Vorgehensweise, die den Militanten ständig neuen Nachwuchs in die Arme treibt anstatt die terroristischen Umtriebe zu zerschlagen.

Auch die internationale Staatengemeinschaft hat sich bisher ohnmächtig gezeigt, ein Ende des Massensterbens im Kaukasus zu erwirken. Im Gegenteil: Erst dieser Tage ließ Wladimir Putin die EU seinen Unwillen zu Kompromissen deutlich spüren: Weil Dänemark, das derzeit die Ratspräsidentschaft inne hat, auf der Veranstaltung des "Tschetschenischen Weltkongresses" beharrte, wurde es sogar der "Komplizenschaft" mit den Terroristen bezichtigt.

Terror oder Freiheitskampf?

Auf eine politische Antiterror-Einheit hofft man derzeit vergebens. Bleibt also dem geknechteten Einmillionenvolk nur der blutige Freiheitskampf? Und wo schlägt er in Terrorismus um? Wie im Palästinenserkonflikt divergieren auch hier die Einschätzungen der Experten. Für Aufregung hat vor allem der französische Philosoph André Glucksmann gesorgt. In einem Interview mit der deutschen Tageszeitung Die Welt zeigte er ein gewisses Verständnis für den Amoklauf der Geiselnehmer von Moskau: "Sie sind am apokalyptischen Ende der Geschichte angelangt. Sie haben keine andere Möglichkeit mehr."

Auch wenn sich Glucksmann hier die sträfliche Gleichsetzung einer kriminellen Vereinigung mit der Gesamtheit der tschetschenischen Bevölkerung leistet: Tatsache ist, dass es wenig fruchtet, der Hydra des Terrorismus mit Brutalität und Entschlossenheit einzelne Köpfe abzuschlagen. So lange sich der Terror von Ungerechtigkeit und Hass nähren kann, werden Geiselnahmen wie in Moskau weiterhin auf der Tagesordnung stehen.

doris.helmberger@furche.at

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