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„Französische“ Rebellen

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Der Terror, Demonstrationen, Explo- wanderer von Straßenräubern über-

sionen und die Ungewißheit über die Zukunft erinnern Montreals gefeierten Dichter Hugh MacLennan daran, daß er bereits in den dreißiger Jahren in einer ähnlichen Atmosphäre lebte — in Wien, vor dem „Anschluß“.

In Quebec, Kanadas größter Provinz, gewinnen die Separatisten Terrain. Besonders unter den Intellektuellen und der Jugend, einer dynamischen Minorität, wird die Popularität der Parti Quebecois, die für ein unabhängiges Quebec kämpft, immer größer — und 80,6 Prozent der sechs Millionen Quebecer sind französischer Abkunft. Die einst oft gehörte sarkastische Bemerkung „Wenn ein Frankokanadier mit 18 Jahren kein Separatist ist, hat er kein Herz — und wenn er noch zehn Jahre später ein Separatist ist, hat er kein Hirn“, wird kaum mehr zitiert. Unter den prominenten Quebecern, die in jüngster Zeit zu den Separatisten stießen, findet man Jacques Parizeau, vielleicht der bekannteste Economist der Belle Province, der als Berater der Quebecer Regierung Internationales Prestige gewann.

Nach einer soeben veröffentlichten Übersicht des Montreal Star, der größten englischsprachigen Zeitung Quebecs, ist Renė Levesque, der Führer der Parti Quebecois, bereits der populärste Politiker der Belle Province. Der Siebenundvierzigjährige, eine Persönlichkeit von anerkannter Integrität, war ein liberaler Minister, ehe er zu den Separatisten überging. Als früherer Fernsehkommentator hat er vor den Televisionskameras nur einen einzigen ebenbürtigen Widersacher unter den Quebecern — Premierminister Pierre Trudeau.

Die Nutznießer

Zu den großen Nutznießern der Unsicherheit, die — einem Nebel gleich — über der Stadt der Großen Weltausstellung von 1967 liegt, gehört die Montrealer Unterwelt. „Immer wieder werden fleißige, sparsame und steuerzahlende Ein

fallen“, berichtet die Wochenzeitung „Montrealer Nachrichten“. Als krasses Beispiel wird der Kaufmann Horst Bubleit, Flüchtling aus Ostpreußen, erwähnt; sein Photogeschäft wurde achtzehnmal (!) von Räubern geplündert Als er eine Polizeialarmanlage anbringen ließ, half dies jüngstens auch nicht, da Montreals 3700 Polizisten gerade streikten

Obwohl es den Separatisten bisher nicht glückte, unter den Arbeitern Quebecs sehr viele Anhänger zu gewinnen, bekennt sich bereits der Gewerkschaftsführer Michel Chartrand, Präsident von Montreals Confederation of National Trade Unions, zu ihnen. Zynisch seine Bemerkung über die „Neukanadier“: Wir ließen die Einwanderer kommen und küßten ihre Füße — aber höher gehen wir nicht

Dynamit für die „Engländer“

Ein neues Gesetz sichert den Primat der französischen Sprache in Quebec, doch immer wieder demonstrieren die Studenten gegen „Bill 63“, die Eltern das Recht gibt, Französisch oder Englisch als Unterrichtssprache für ihre Kinder zu wählen. Schon droht Michel Chartrand: „Wir werden die englischsprachigen Schulen und Universitäten Quebecs mit Dynamit hochgehen lassen!“ Und der liberale Toronto Star, Kanadas größte Zeitung, bemerkte: „Quebec marschiert dem Separatismus entgegen.“

Die Unruhen in Quebec verschlechtern die wirtschaftliche Lage. Die Arbeitslosigkeit kletterte auf 7,2 Prozent, verglichen mit 3,1 Prozent in der Nachbarprovinz Ontario. Eine Reihe von Konzernen, die in Quebec Fabriken errichten wollte, sah wegen der vorherrschenden Ungewißheit davon ab. Doch die Separatisten sind immer noch eine Minorität. Ihr Ziel bei den kommenden Quebecer Wahlen ist nicht der Sieg, sondern die Hoffnung, die Rolle des Züngleins an der Waage zu spielen — gleichgültig, ob die konservative Regierungspartei Union Nationale oder die Liberalen gewinnen.

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