Klein, verbogen, verkrampft

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Marlene Streeruwitz' neuester Roman "Entfernung" begleitet eine Frau zwei Tage durch London und ihr Leben und Leiden.

In der Kritik hat sich der Begriff "atemloses Stakkato" eingebürgert für Marlene Streeruwitz' Erzählmanier in abgehackten Satzfragmenten, in denen Grammatik und Logik erzählender Rede mit der Willkür der Punkte getreten werden. Dass man so keinen Erzählatem durchhalten kann, weiß auch Streeruwitz und so setzt sie ihre Zertrümmerungsmaschine durchaus dosiert ein; am rücksichtslosesten immer dann, wenn sich die psychischen Zustände ihrer weiblichen Heldinnen einem kritischen Punkt nähern, was sie oft genug - und mitunter auch ohne hinlängliche Motivierung - tun.

In ihrem neuen Roman "Entfernung" wählt Streeruwitz mit dem Thema Arbeitslosigkeit ein gesellschaftspolitisches Fundament für das Leiden ihrer Hauptfigur. Selma war bis vor kurzem erfolgreiche Dramaturgin der Wiener Festwochen; eine einflussreiche Kulturmanagerin, gewohnt an das typische Luxusverhalten Streeruwitz'scher Szenefrauen und an die unaufgeregte emotionale Versorgung in einer Langzeitpartnerschaft.

Nun ist sie aus beiden Zusammenhängen "entfernt" worden, der Job ist weg und Freund Anton hat sich für seine Nebenfreundin entschieden, die ihm ein Kind geboren hat.

An der Schwelle zum Alter ist Selma so mit einem Schlag alles abhanden gekommen, was ihr Leben bequem und angenehm gemacht hat: der Status, die zweifellos stilvolle gemeinsame Wohnung und die partnerschaftliche Verankerung. Für sie heißt es zurück zum Start - das äußere Zeichen dafür ist Selmas Rückkehr in die väterliche Wohnung.

Von dort bricht sie zu einer quälend mühseligen Reise nach London auf, mit einer vagen Hoffnung, die sie auf eine dortige Szenefigur namens Gilchrist setzt. Ihm will sie ein Sarah-Kane-Projekt vorschlagen, doch auch Gilchrist gehört zu den inzwischen vom Tempo des Kulturbetriebs Überrannten.

Und so irrt Selma durch den Londoner Großstadtdschungel, erlebt fortwährend kleine Unbilden und Anpöbeleien, leidet ebenso fortwährend an Hitze, Durst, Ermattung, an zu viel oder zu wenig Menschen um sich, an zu viel Lärm oder zu viel Stille. Zufällig gerät sie schließlich in die Rolle eines Nacktmodells, in der sie sich ganz wohl fühlt, und zu guter letzt in den Terroranschlag auf die Londoner U-Bahn, den sie nur leicht verletzt überlebt.

Somatische Reaktionen

Selbst diese Erfahrung ist für Selma, die als Simplicissima durch die zweitägige Erzählzeit taumelt, nur ein weiterer Impuls für somatische Reaktionen. Zwar beginnt sie hin und wieder zu ahnen, dass ihr tolles Leben von einst so toll vielleicht doch nicht war; dass sie reichlich oberflächlich dahintreibend schon lange und kritiklos an der Kommerzialisierung des Kulturbetriebs mitgearbeitet hat, aber zu wirklichen Erkenntniserlebnissen verdichten sich diese Gedanken nicht.

"Und damit war wieder einmal bewiesen, dass Krisen einen zu einem netteren Menschen machten", heißt es an einer Stelle, und das ist nicht nur grammatikalisch fragwürdig, denn auf Selma trifft es keineswegs zu. Sie ist in sich und ihre Körperwahrnehmungen so hoffnungslos verstrickt, dass kein Raum und keine Zeit bleiben, sich den Menschen ihrer Umgebung zu öffnen. "Sie hatte begonnen, sich wie eine von Frauenzeitschriften gesteuerte Tusse zu benehmen" - das trifft den Kern der Sache schon eher. Nur dass man kaum glauben will, das wäre vor der doppelten "Entfernung" anders gewesen. Dass sie sich einst die Schweißdrüsen operativ entfernen ließ, interpretiert sie noch heute als Akt des "Aufbegehrens gegen die Eltern" und ist glücklich, dass "diese Sorge wenigstens nicht". Zu einem Teil ist Selmas mangelnde Souveränität auf allen Ebenen des Alltags-und Reiseverhaltens mit der aktuellen existenziellen Erschütterung erklärbar, aber man kann sich Selma kaum als tüchtige Karrierefrau denken. Und auch nicht als liebende Partnerin; die Beziehung scheint doch eher eine distanzierte Zweckgemeinschaft gewesen zu sein, die sie post festum inniger interpretiert, als sie je gelebt wurde.

Mittelstandshöflichkeit

"Verträumt war sie. Herzig. ... Mit ihrer Mittelstandshöflichkeit. Mit ihrer Mittelstandsfreundlichkeit", das ist eines der härtesten Urteile, das Selma über sich selbst fällt, und tatsächlich wirkt alles an ihr klein, verbogen und verkrampft, nichts erinnert an die weltoffene Person, die sie bis vor kurzem gewesen sein will. Selmas fester Etui-Tick passt ebenso zum Stichwort "herzig" wie ihre Manie, sich in einem fort kramend des Inhalts ihrer Handtasche versichern zu müssen; bei jedem Laufband entwickelt sie panische Angst, sie könnte stolpern und sich dadurch lächerlich machen, als wäre die ganze Welt auf die Beobachtung ihrer Person konzentriert.

Auch wenn man die Kränkung und psychische Deprivation einrechnet, die der unsanfte Sturz aus einer öffentlich angesehenen Position bedeutet, ein so radikaler Rückfall in pubertäre Verhaltensweisen ist doch überraschend. Und ähnliches gilt für die Körperbilder, in denen sich Selmas Leiden an sich und der Welt sprachlich ausdrückt. "Der Riemen. Ein tiefer Schnitt in den Oberarm." - so oder so ähnlich ist immer wieder zu lesen und irgendwann hört man auf zu registrieren, wie oft Selma den Rucksack "über die Schulter schwang". Das ist doch sehr weit entfernt von der Spracharbeit an körperbezogenen Metaphern, die in der Literatur von Frauen eine lange Tradition hat.

Und über manche Dinge würde frau gern genauer Bescheid wissen, etwa wie sich Autofahren anfühlt mit einem "Singen in der Scheide. Ein winziges Singen." Oder: "Und die Scheide unten zu spüren. Zwischen den Hüftknochen. Und überall traurig."

Unabhängig davon, ob man solche Formulierungen als originell interpretiert oder doch als missglückt - die ausschließliche Bezogenheit auf innere (Körper)Wahrnehmungen verhindert letztlich, dass der Roman einlöst, was der Klappentext ankündigt, nämlich das "Projekt des Subjekts im Neoliberalen" weiterzudenken. Selma findet es nur "blöd", "dass ihr Alt-Werden und diese Weltverschlechterungen. Dass das parallel verlief" - und so bildet die allgemeine Weltverschlechterung allenfalls den Subtext für ihre psychosomatischen Zustände.

Entfernung

31 Abschnitte

Roman von Marlene Streeruwitz

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006,

475 Seiten, geb., e 20,50

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