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NEUES LICHT AUF SELMA LAGERLoF

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Es war manchmal für den Fremden, der Schweden in den dreißiger Jahren besuchte, erstaunlich, daß die Weltberühmtheit der Selma Lagerlöf nicht ausreichte, um sie vor dem despektierlichen Urteil zu schützen, das damals deutlich im Ansteigen war. Man lächelte über sie, nannte sie „Tante Selma“, erklärte sein Desinteressement an ihren Büchern. Erst bei näherer Kenntnis des neuen Schweden verstand man, daß es sich hier um einen klaffenden Generationsbruch handelte. Die Dichterin, die trotz ihres Alters Millionen Leser der ganzen Welt faszinierte, hatte sich in ihrer Heimat überlebt. Gewiß war sie, die eine kleine Gestalt hatte und hinkte, weiter die D>ame der königlichen Akademie und ihrer strahlenden Nobelfeste, die Herrin von Morbacka, ihres Gutes in Wärmland, die vielgelesene Autorin der schwedischen Bibliotheken und Schulen — aber der Strom der jüngeren Generation' brauste vorüber an ihr. Sie hatte 1910 den Nobelpreis erhalten und damit den Zenit ihres literarischen Ruhms vor dem Weltkrieg erreicht. Wenn sie auch die Jahre 1914 bis 1918 so stark miterlebte, daß sie während langer Perioden nicht arbeiten konnte, ließ sie sich doch nicht in die Wirbel des großen Zusammenbruchs ziehen. Ihre geistige Welt blieb die gleiche auch nachher: sie lebte in Alt-Europa, in Alt-Schweden. Und es war dies, was ihr die Jugend übelnahm. Erst recht — heute.

Selma Lagerlöf wußte um diese unlösbare Spann/ung. Wenn sie in späteren Jahren ein Werk abgeschlossen hatte, überkam sie eine Art Lähmung, wo „es schrecklich“ war, „dazusitzen und auf die Kritik zu warten.“ Schließlich meldete sie zu ihrem 80. Geburtstag der Freundin Olander, sie fürchtete, ihre Nerven seien dem Echo eines neuen Buches nicht mehr gewachsen, und sie wolle deswegen auch keines mehr herausgeben. In der Tat: ihr letzter Romanplan blieb Fragment. Er wurde als eine Sammlung von Aufzeichnungen aufbewahrt.

Damit begann ihr beschwerliches Alter. Zu dem Bangen vor der Isolierung gesellten sich körperliche Plagen, aber vor allem die Angst, daß ihre Inspiration versiegt sei. „Der Ring des Generals“, der als erster Teil des Löwensköld-Zyklus 1925 erschien, war zwar noch ein vollendetes Meisterwerk, an dem kein Erlahmen bemerkt werden konnte — das Buch gleicht in seiner Mythoskraft „Herrn Arnes Schatz“ oder der „Harrenhofsage“ —, aber die folgenden Teile fielen dagegen ab. Auch hier ein Reichtum der Charaktergestaltung, von Einfällen und • ungewöhnlichen Motiven, aber die Schwungkraft schien gebrochen.

Selma Lagerlöf spürte dies als einen Tribut, den das Alter von ihr forderte. Das Schreiben ging ihr immer langsamer von der Hand, und sie hatte es nicht leicht, den Verleger Bonnier zu beruhigen, der schon ungeduldig auf die nächsten Bogen wartete. „Das sind gräßlich schwere Dinge, mit denen ich jetzt zu tun habe“, schrieb sie, „und meine ganze Energie muß sich darauf einrichten“. Neue Mensche interessierten sie kaum, sie mußte sie abwehren, ebenso den Strom der täglichen Bittbriefe. Ihre gar .-e Energie sollte allein der Niederschrift der neuen Kapitel dienen. Aber alle Anstrengung half nichts. „Ich kann sie (die Kapitel) nicht reinschreiben, denn am Anfang eines Buches ist immer so viel zu ändern. Freilich weiß ich, was darin stehen soll, und teilweise sind sie auch fertig. Ich beginne auch einigermaßen zu wissen, was sich in dem Buch ereignen wird... Aber natürlich wird es nicht heiter.“

Der Frühling 1926, wo sie mit „Anna Svärd“ zu Ende zu kommen hoffte, erfüllte nicht ihre Erwartungen. „Es geht schrecklich langsam. Ich kann meinen Weg nicht sehen“, seufzt sie. Aber auch der Sommer veränderte nicht viel daran: „Es geht verzweifelt langsam“. Im Herbst, für den sie den Abschluß versprochen hatte, sah sie keine Lösung. Da trat eine Wendung ein, die ihrer Verzweiflung ein Ende machte: „... jetzt am Nachmittag kiam eine gute, befreiende Idee, auf die ich seit vielen Wochen gewartet habe...“ 1928, zu ihrem 70. Geburtstag, lag „Anna Svärd“ im Druck vor: der Roman der dailekarlischen Hausiererin, die die Gattin eines religiösen Schwärmers wird.

In ihrer Sorge über das Ausbleiben der Inspiration hat Selma Lagerlöf oft einen Ausweg gesucht, der an die unbewußte Reaktion eines Schulkindes erinnert. Sie schrieb an den Rand der Maniuskriptseiten Stoßgebete hin, die sie später durch Uberkreuzen unleserlich machte. Man hat jedoch heute diese Stellen entziffert. „Ach, mein Gott“, steht dort oder „O mein Gott, lehre midi, was ich schreiben soll“ oder „Ich, die ich nur eine geringe Aufzieichnerin von Menschen-schictasalen bin, keine von den großen Zweiflern, keine von den großen Glaiubenhelden, und die nur eine schwache innere Zuversicht hat, an die sie sich halten kann, ich bitte dich, du meine schwache Zuversicht, ich bitte dich, du mein schmaler Lichtstreifen, leite mich, lenke...“ Hier bricht der Notruf ab. Ein ähnlicher, noch aus den Kriegs jähren, lautet: „Guter Gott, hilf Selma Lagerlöf! Christus Jesu komm und hilf mir, sag, was ich schreiben soll.“

In den letzten zwölf Jahren rang sie verzweifelt um das Wort in der Einsamkeit von Morbacka, an dessen Park Autos mit neugierigen Touristen vorbeistreiften. Die ersten drei Teile des Löwensköld-Zyklus waren endlich nach 15jäfariger Arbeit gedruckt, aber der vierte und letzte, der nur ein kleines Buch von 160 Seiten werden sollte und Anna Svärds Mann, dem sektierischen Christen galt, ergab sich nicht. Die berühmte Dichterin Schwadens erlebte jetzt die Hilflosigkeit des geringsten ihrer schreibenden Kollegen, des Dilettanten, der weder die Gestalt des Ganzen noch das Ende finden kann. Der Schlaganfall im Frühling 1940 schlägt ihr für immer die Feder aus der Hand. Erst jetzt erfuhr man Näheres über ihre letzte Zeit, und zwar durch Lars Ulvenstams Buch: „Die alternde Selma Lagerlöf“: wir können jetzt in ihre Werkstatt sehen und müssen feststellen, wie sie um keinen Preis kapitulierte.

Auch andere Momente beleuchtet dieses Buch, die bis jetzt im Dunkel lagen, besonders ihre Christlichkeit. Sie hat schon früh christliche Stoffe gewählt, und diurch ihre ganze Dichtung ziehen sich die zwei Ströme einer heidnischen Mystik und eines christlichen Erbes. Sie hat sich selbst nie zu einer Konfession bekannt, sondern fühlte sich als die Erzählerin des Nordens, und diese wollte sie auch in der Einsamkeit des Alters bleiben. Sie wollte mit ihrem Werk Wirklichkeit nachschaffen, nicht naturalistisch, aber so, daß es als Material zum Aufbau einer übersinnlichen Welt dienen sollte: damit berührte sie die Sphäre des Christlichen. Wenn man sie aber darauf festlegen wollte, wich sie aus.

Im Grunde war Selma Lagerlöf eine Wärmländerin, deren Eigenart einem lakonischen Realitätssinn verhaftet blieb. Geistvoll sprühend gab sie sich nie, sondern sie blieb nüchtern. Als Paul Valery sei bei einem Bankett, plötzlich von ihrem Bück berührt, in einer begeisterten Rede als „den modernen Homer“ feierte und ihr Verleger sie dann beiseite nahm und fragte, wie sie diesen Vergleich aufnehme, antwortete sie: „O ja, das hörte sich angenehm an.“

Einem solchen auf Realität gerichteten Geist fiel es nicht leicht, ein religiöses Bekenntnis zu dem seinigen zu machen, das nicht bis ins letzte der eigenen Kritik standhielt, und ihre Versuche nach einer „beweisbaren Religion“ in den letzten Lebensjahren zeigten, wie ernst es ihr damit war. „Es kommt wohl ein religiöses Genie, das das Rätsel löst“, entschied sie optimistisch.

Selma Lagerlöf hat „Christuslegendan“ geschrieben, aber sie zweifelte an der Gottheit Christi. „Daß er (Christus) unsere Sünden getilgt hat, habe ich nie verstanden.“ Selma Lagerlöf gehörte einem liberalen Christentum an, das ein soziales und humanitäres Pathos aufrechthielt, im übrigen aber von einem dünnen Geist des Relativismus erfüllt war und auch keine lange Lebensdauer hatte: es ist heute im Aussterben begriffen. „Solltest du dich nicht damit zufrieden geben, daß du Gott gefunden hast, und aufhören von einer besonderen Religionsform zu sprechen? Dies: an Gott glauben zu dürfen, ist das Wichtigste für uns. Die Religionsform ist vielleicht etwas Überlebtes, vielleicht hat sie niemals für die Völker des Nordens gepaßt. Wir konnten ja .niemals Christen werden“, schrieb sie an Professor Valfried Vasenius. Ihr früher zitierter Notruf an Christus widerspricht freilich dieser Behauptung.

Die religiöse Unruhe ihrer letzten Zeit stand offenbar im Zusammenhang mit der Furcht, daß das Romanwerk unvollendet bleibe. Nach dem Ermatten der Inspiration wäre es ja denkbar gewesen, daß sie aus einem erstarkten Glauben neue Impulse hätte schöpfen können — um so mehr, als der Roman, den sie schreiben wollte, der religiösen Leidenschaft eines Freichristen galt. Aber ihre Zweifel und Forderungen nach einer „beweisbaren“ Religion unterminierten praktisch jeden Versuch der Glaubenshingabe, und so beraubte sie sich selber der Kraft, die allein ihr erlahmendes Schaffen hätte retten können. In ihrer Ehrlichkeit konnte sie doch nicht anders denken und handeln, als wie es der Fall war, und aus dieser doppelten Schwierigkeit ergab sich die Tragik von Seima Lagenlöfis letzten Jahren.

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