Antigone - © Foto: Matthias Horn

„Antigone“ – Die Toten bleiben bei uns

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Das Wiener Akademietheater eröffnet die Saison mit Thomas Köcks „Antigone. Ein Requiem“. Ein Stück, das aktueller kaum sein könnte.

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Das Wiener Akademietheater eröffnet die Saison mit Thomas Köcks „Antigone. Ein Requiem“. Ein Stück, das aktueller kaum sein könnte.

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Seit Langem schon gehört „Antigone“, die um 440 v. Chr. entstandene Tragödie von ­Sophokles, zu den kanonischen Texten der abendländischen Geistesgeschichte. Bekanntlich wird darin eine Widerstandsgeschichte erzählt. Kreon, der Herrscher von Theben, erlässt das Dekret, wonach sein Neffe Polyneikes, der als Feind in die Stadt zurückgekommen ist, nicht zu bestatten sei. Dessen Schwester Antigone jedoch widersetzt sich, weil sie sich für das Recht der Toten, den Anspruch auf Ehrung, einsetzt.

Dieser Streit hat vom 16. Jahrhundert an als Modell für grundlegende philosophische, politische, soziale und auch gendertheoretische Positionierungen gedient und viele Deutungen hervorgerufen. Kann doch der Konflikt gelesen werden als Auseinandersetzung der Geschlechter, der Generationen, als die eines alten pedantischen Mannes mit einer eigensinnigen jungen Frau, einer humanen Täterin aus Überzeugung, oder anders als Kampf zweier Prinzipien, des Prinzips des Staates, das von Kreon (vermeintlich) repräsentiert wird, und der ungeschriebenen Gesetze der Familie oder der Sittlichkeit, wie sie Antigone vertritt.

Meist sind es die rechtlich-moralischen Sachverhalte, die im Zentrum der Interpretationen stehen, wie etwa der Widerstreit von Gesetz und Recht oder die Frage, inwieweit jemand berechtigt ist, für ein humanes Recht einzutreten und damit ein Gesetz zu verletzen, wie weit ein Mensch gehen kann oder manchmal auch soll, aus Überzeugung gegen ein Gesetz zu verstoßen. Denn die Geschichte lehrt, dass auch ein Gesetz an sich selbst oder durch die Entwicklung des Lebens zu Unrecht werden kann.

Erschreckend aktuell

Die Tragödie diente von ­Racine über Hölderlin, Anouilh bis zu Brecht, Hochhuth und vielen anderen immer ­wieder als Schauplatz politischer Konflikte und der Auseinandersetzung mit uns selbst. Im Auftrag des Staatstheaters Hannover hat nun der ober­österreichische Dramatiker ­Thomas Köck (Jahrgang 1986) die rund 2500 Jahre alte Tragödie von ­Sophokles überschrieben und den Deutungen eine weitere hinzugefügt. Ohne Verluste geht das freilich nicht.

So ist Köcks „Rekomposition“, wie er es nennt, gemessen an der Vorlage zwar etwas unterkomplex, dafür sprachlich umso virtuoser und wegen der bestürzenden Vorkommnisse in Moria auf Lesbos erschreckend aktuell. Denn Köck grundiert seine Bearbeitung mit der globalen Flüchtlingskrise und singt ein Requiem für die zahlreich angespülten anonymen Toten an den Stränden Europas. Sie will Kreon nicht in der Stadt begraben sehen, weil „nichts ist ungeheurer als die Toten“. Denn sie sind – obwohl stumm – beredte Zeugnisse unseres Versagens, unserer Unmenschlichkeit, Ignoranz, seelenloser Hartherzigkeit, unserer Schuld.

Lars-Ole Walburg, der die österreichische Erstaufführung besorgt hat, nimmt sich sehr zurück, baut ganz auf die Wirkung des Textes. Der ist eine ebenso große Anklage – wie man sie von Köcks Diskurstheater schon kennt: Kapitalismus, Klima, Kolonialismus etc. – wie emphatische Klage, die vom siebenköpfigen Ensemble in heiligem Ernst vorgetragen wird, während das Geschehen auf der leicht geneigten schwarzen Rampe sehr statisch ist.

Man hat viel Zeit zuzuhören, was manchmal unerträglich ist, wenn ­etwa der wunderbare Markus Scheumann als Kreon Politsprech zur Phrasendrescherei hochtourt. Unerträglich, weil kaum übertrieben.

Und vielleicht ist es gerade die konzertante Aufführung, weswegen der Text eine große Eindringlichkeit entfaltet. Monologe und Dialoge wechseln sich mit chorischen Passagen ab, während im Hintergrund eine Projektion die ganze Szene 20 Meter unter Wasser taucht. Sinnbild nicht nur für das Schicksal der Flüchtenden, sondern ebenso für die ersäufte europäische Flüchtlingspolitik. Mit Köcks „Requiem“ kehrt sie zurück ins Bewusstsein. Das ist nicht wenig. Im Text heißt es einmal „die schuldenlast die ihr verursacht wird wiederkehren“. Ja, die Toten bleiben bei uns. Wie wahr!

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