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Die Verratenen

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Kärnten, Mitte Mai 1945. Eine Flüchtlingswelle nach der anderen überflutet das Kärntner Drautal. Russische Kosaken, serbische und montenegrinische Tschetniks, slowenische Dom-obranzen, große Teile der mit den Deutschen verbündeten kroatischen Armee. Sie alle suchen Schutz bei der britischen Besatzungsmacht und wähnen sich schon in Sicherheit.

Doch dann taucht plötzlich das gefürchtete Wort „Repatriierung“ auf. 40.000 Kosaken wurden unter grausamen Umständen an die Sowjets ausgeliefert, darunter etwa 3000 russische Flüchtlinge, die seit derh Bürgerkrieg nicht mehr in der Sowjetunion gelebt hatten.

Auch an Titos Partisanen, die Teile Kärntens besetzt hielten, wurden täglich Tausende von Zivilisten und Soldaten ausgeliefert. Die Briten setzten ihre Aktionen fort, als schon von Massenerschießungen jenseits der Grenze die Rede war.

Heute, mehr als 40 Jahre danach, versucht ein Buch die fürchterlichen Ereignisse von damals zu rekonstruieren und sorgt für Unmut in den höchsten Kreisen der britischen Polit-Aristokratie. Es heißt „Der Minister und die Massaker“ (Verlag Faber & Faber, London).

Der Autor, der russischstämmige Schriftsteller Nikolaus Tolstoj, nennt in seinem Buch auch den, Hauptverantwortlichen für die Tragödie von damals: Harold MacMillan, in jenen verhängnisvollen Tagen politischer Berater von Feldmarschall Harold Alexander, der wiederum als Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte im Mittelmeerraum mit dem Sitz in Caserta für die Operationen in Kärnten zuständig war. Heute residiert MacMillan geadelt als Lord Stockton im britischen Oberhaus.

In einem Gespräch mit der FURCHE beschuldigte Nikolaus Tolstoj den ehemaligen Karriereminister und Staatsvertrag-Unterzeichner MacMillan, von den blutigen Konsequenzen bei der Erteilung seines Auslieferungsbefehls gewußt und später sogar die ganze Affäre vertuscht zu haben.

NIKOLAUS TOLSTOJ: „Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die britischen Besatzungstruppen keine Absicht hatten, weder die Kosaken noch die im Klagenfur-ter Gefangenenlager Viktring biwakierenden Jugoslawen, auszuliefern. Der Brigadegeneral Tom Keightley erklärte, er habe keinerlei Befehle gehabt irgend jemanden zu .repatriieren'.

Doch die ersten Repatriierungen begannen, nachdem MacMillan am 15. Mai 1945 den britischen Besatzungstruppen in Kärnten einen Blitzbesuch abstattete. Die Tragik dieser Entscheidung ist umso größer, weil MacMillan in seinem Tagebuch schrieb, daß diesen Menschen .Sklaverei, Folterung und wahrscheinlich der Tod' bevorstehe.“

FURCHE: Was bewog den Minister, diese Menschen dann doch in den sicheren Tod zu schicken?

TOLSTOJ: „Das ist schwer zu ergründen, zumal sich Harold MacMillan weigert, diesbezüglich jede öffentliche Stellungnahme abzugeben. Mir gegenüber gab MacMillan eine Erklärung ab, die mir jedoch wenig plausibel erschien. Er sagte, es habe im Falle der Kosaken ein Auslieferungsabkommen mit den Sowjets gegeben. Im Mai 1945 hätten die Russen eine Menge britischer Kriegsgefangener aus den Lagern der Wehrmacht befreit, deren Uberstellung in den Westen sie jedoch von der Auslieferung der Kosaken abhängig machten. Aber ich habe in meinem Buch deutlich bewiesen, daß es gar kein Auslieferungsabkommen mit den Sowjets gegeben hat.“

FURCHE: Die Jugoslawen zum Beispiel hatten gar keine britischen Kriegsgefangenen in ihrer Gewalt und somit auch kein Faustpfand. Warum hat man dann die kroatischen, serbischen und slowenischen Tito-Gegner ausgeliefert?

TOLSTOJ: „MacMillans Erklärung dafür ist simpel und grausam zugleich. Er sagte, es habe damals in Kärnten Tausende von Flüchtlingen, Soldaten und Zivilisten, gegeben, die Verpflegung sei von Tag zu Tag knapper geworden. Was hätte er also tun können?“

FURCHE: Es wird aber oft behauptet, britische Unterstellen hätten da teilweise auf eigene Faust gehandelt?

TOLSTOJ: „Brigadier William Murray spricht von einer .mündlichen Weisung' MacMillans, einen Großteil dieser Leute auszuliefern. Er verbot dabei aber ausdrücklich jede Anwendung von Gewalt.“

Um Zusammenstöße mit den verzweifelten Flüchtlingen zu' vermeiden, bedienten sich die Briten einer List.

TOLSTOJ: „Man ließ die Nachricht verbreiten, eine Konfrontation des Westens mit den Sowjets stehe unmittelbar bevor und die aus Jugoslawien stammenden antikommunistischen Streitkräfte würden zur weiteren Ausbildung nach Italien gebracht. In Wirklichkeit brachte man die Gefangenen an die jugoslawische Grenze und übergab sie dort den Partisa-nen.

Soweit der Autor. Sein Buch hat eine tiefe Wunde in einem besonders dunklen Kapitel der britischen Geschichte aufgerissen.

BBC-Redakteure weigerten sich, offenbar auf eine Weisung von oben, sein Buch zu präsentieren. Eine seit langem geplante Rezension im „Observer“ ist bis heute noch nicht erschienen. Offensichtlich will man in London Gras über die ganze Sache wachsen lassen. Vergangenheitsbewältigung auf britisch?

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