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Sündenböcke

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Wenn sich mein dreijähriger Bub vor seinem Krokodil fürchtet, deckt er es mit einem Tuch zu - und ist überzeugt, daß es jetzt nicht mehr da ist. Ahnlich funktionieren so manche Problemlösestrategien, die im Wahlkampf für soziale Konfliktfelder angewandt wurden. Sünden-bocktheorien verschleiern strukturelle Problemlagen und vereinzeln die Menschen, die von diesen betroffen sind. In ganz EU-Europa fallen Millionen in Armut oder sind in Sorge um ihre Lebensgrundlagen. In Zeiten, in denen der Verteilungsk"ampf härter wird, läßt sich dieser auch zwischen ökonomisch Schwächeren und sozial Benachteiligten instrumentalisieren. Sie werden dabei nicht als von prekären Lebensbedingungen Betroffene ins Spiel gebracht, sondern gegen die Taugenichtse, als Anständige gegen die Trittbrettfahrer.

Zentrales Mittel der Wahlauseinandersetzung war die Umkehrung des Solidaritätsprinzips: Die „Faulen", meist verwendet für Menschen an der unteren sozialen Leiter, sollen sich den „Fleißigen", also denen, die es geschafft haben, solidarisch erweisen. Armut war in den te-levisionären Gladiatorenkämpfen kein Thema, wenn aber soziale Notlagen zur Sprache kamen, dann immer eingebettet in einen Ausgrenzungsdiskurs: Familien seien besonders von Armut bedroht, auch deshalb, weil andere ihre Bedürftigkeit nur vorgeben. Alleinerziehende Mütter seien besonders schlimm dran im Verhältnis zu Arbeitslosen. Die kleinen Leut' werden übergangen im Gegensatz zu den Ausländem, und so weiter.

Hier werden den Schwachen die Schwächsten zum Opfer dargebracht, Personengruppen, die allesamt von Ausgrenzung bedroht sind, aufeinandergehetzt. Die Umfrage der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft Ende November spiegelt diese Wahltaktik in der Bewußtseinslage der Bevölkerung wider: Arbeitslose und Zu-wanderer bekämen „zu viel" an Sozialleistungen, Familien um Behinderte „zu wenig". Die Bichtig-stellung der wirklichen Höhe der Transferleistungen - Familien-transfers und Pflegegeld (wenn auch nicht genügend treffsicher) am höchsten, Zuwanderer zahlen insgesamt weit mehr ein als sie herausbekommen - blieb aus.

Der Autor ist

Psychologe und war Mitbegründer und Obmann von SOS Mitmensch.

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