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Erschüttertes Selbstvertrauen

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Der Untertitel „Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen“ sagt mehr über das Anliegen des Buches als der provokante Titel. Es ist der Versuch, das Selbstverständnis des Menschen vom Mittelalter bis heute unter dem Aspekt der Macht zu analysieren.

Unter „Gotteskomplex“ ist die neurotische Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht zu verstehen. Verdrängt wurden die „natürliche Abhängigkeit“ von der Natur, die „Grenzen menschlicher Existenz“, die Frage nach der Beziehung zu Gott.

Der erste Hauptteil des Buches behandelt die Geschichte der Illusion von der menschlichen Allmacht. Der mittelalterliche Mensch - interpretiert der Autor - habe sich in seiner Gotteskindschaft lange sicher gefühlt. In dem bekannten „cogito ergo sum“ des Descartes sieht Richter eine Rationalisierung: Das Selbstbewußtsein wird zum Garanten des modernen Sicherheitsgefühls. Die Erforschung der Natur ist dann zu verstehen als Suche nach einer neuen Geborgenheit, die erst erreicht ist, bis alles restlos erforscht ist.

Die in den letzten Jahren deutlich werdende Skepsis gegenüber dem

Anspruch der Beherrschung der Natur durch den Menschen mußte das Selbstvertrauen des neuzeitlichen Menschen erschüttern. Die Selbstfindung des Menschen im Sinne der Aufklärung erscheint als Sackgasse, aus der nur die neue Entdeckung der Emotionalität, die „Logik des Herzens“ herausführen kann: Der mitfühlende Mensch könnte den Ausweg in das „Miteinander“ finden und seinen Standort richtig als „weder ganz klein noch unendlich groß“ erkennen.

Das Buch fasziniert dort, wo Phänomenen der Gegenwart nachgegangen wird: dem Verdrängen des Leidens, der Angst vor dem Sterben, unter den verschiedensten Erscheinungsformen: im projektiven Haß (Hexenwahn, Judenhaß), im verleugnenden Überspielen (Partykultur), in Ersatzbefriedigungen (Konsum, Sexkult) und in der Sozialbürokratie (Versachlichung des Leidens, semantische Tarnung).

Die Absetzbewegung der Jugend hin zu Drogen, Sekten und Alternativghettos läßt diese Gruppen als „Symptomträger“ erscheinen, die die verdrängte Kehrseite unserer Zivilisation sichtbar machen.

In seiner Analyse des Bewußtseins und Lebensgefühls des heutigen

Menschen vermag Richter zu überzeugen. In der philosophisch-historischen Herleitung und in der Andeutung eines neuen, „gesünderen“ Selbstbildes wirkt manches gestellt und unfertig. Es ist ein Buch über das „Allmachtstreben“, den „Gotteskomplex“ - die Erlösungssehnsucht kommt nicht vor. Die Auseinandersetzung mit der dahinterliegenden Frage „Existiert Gott?“ überfordert die psychoanalytische Betrachtungsweise.

DER GOTTESKOMPLEX. Von Horst E. Richter. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1979, 339 Seiten, öS 171,60.

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