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LEE KUAN YEW / ZWISCHEN CHAOS UND TYRANNIS

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„Die österreichische Neutralität könnte ein Modellfall für die Lösung der Probleme Süd- ostasiens Sein, die durch ein Machtvakuum in diesem Raum entstehen würden.” Der Mann, der diesen Satz bei seinem Besuch in Österreich aussprach, ist der Regierungschef des kleinsten der südostasiatischen Staaten: Lee Ku an Yew, Premierminister von Singapur, befindet sich derzeit auf einer Europareise. Großbritannien, Schweden — wo er den Delegierten der Sozialistischen Internationale vorwarf, ihr Denken und ihre Politik sei viel zu sehr auf Europa konzentriert —, Polen, die CSSR, Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Griechenland sind die Stationen dieser Reise.

Lee Kuan Yew, 1923 als Sohn einer chinesischen Familie in Singapur geboren, studierte — wie es für einen Angehörigen der Oberschichte einer britischen Kolonie selbstverständlich war — in Großbritannien. In Cambridge erwarb er den M. A.-Grad. Die Theorien Harold Laskis, des brillanten Chefideologen des linken Flügels der britischen Arbeiterpartei, beeinflußten ihn entscheidend, und seit seinem Studienaufenthalt in England bekennt sich Lee zum Sozialismus. Nach seiner Rückkehr arbeitete Lee zunächst in der Gewerkschaftsbewegung Singapurs. Seine hervorragende Bildung, sein rhetorisches Talent und seine oft als skrupellos bezeichnete Durchschlagskraft ließen ihn rasch die politische Stufenleiter emporsteigen. 1954 wurde er zum Generalsekretär der neugegrün deten „People”s Action Party” (P. A. P.) gewählt, und 1959 wurde Lee der erste Premierminister des autonomen Singapur.

Lee hatte bei seinen Bestrebungen um die Unabhängigkeit die volle Unterstützung der KP, die vor allem unter der chinesischen Majorität Singapurs einen sehr starken Anhang besitzt. Bald nach der Erringung der Selbstverwaltung kam es aber zu schweren Auseinandersetzungen und schließlich zu einem tiefen Bruch zwischen der P. A. P. Lees und den Kommunisten. Die Kommunistische Partei Singapurs ist der Regierung in Peking völlig hörig, und Lee ist ein viel zu eigenwilliger Politiker, um sich von außen manipulieren zu lassen. Außerdem brachte der 1963 vollzogene Beitritt Singapurs zur Föderation von Malaysia Lee in einen scharfen Gegensatz zur Außenpolitik Chinas und Indonesiens. Der im August 1965 einvernehmlich vorgenommene Austritt Singapurs aus der Föderation und die Wirren, die seit dem Herbst desselben Jahres Indonesien erschüttern und eine aggressive Politik dieses Landes verhindern, scheinen allerdings die außenpolitische Gesamtposition des nunmehr souveränen Stadt staates entscheidend verbessert zu haben.

Lee gilt als einer der profiliertesten Vertreter der afro-asia- tischen Staatenwelt, der sich weder der Aufrechterhaltung feudaler gesellschaftlicher Zustände verschrieben hat noch sich dem Kommunismus in die Arme wirft. Auf seinen Auslandsreisen wirbt er nicht nur für Singapur, sondern ebenso für ein besseres Verständnis für diejenigen Länder, deren Hauptproblem der Circulus vitiosus von unterentwickelter Infrastruktur, Bevölkerungsexplosion und einer sich ständig verschlechternden Weltmarktsituation ist.

Südostasiens Zukunft ist ungewisser als je zuvor. Der Krieg in Vietnam beeinflußt das Schicksal des ganzen Subkontinents. Vielleicht ist ein Politiker vom Typ Lee Kuan Yews der einzige, der — neben den Kommunisten — ein Konzept vorweisen kann. „Neutralität”, so meint Lee, „würde mithelfen, eine explosive Situation zu verhindern.” Solche vorsichtigen Formulierungen zeigen, daß der Premierminister von Singapur keine Patentlösungen anzubieten versucht, daß er bei allem Optimismus Realist ist.

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